Die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat die Beschwerde eines straffällig gewordenen EU-Bürgers gegen seine Landesverweisung abgewiesen und hierfür eine Begründung abgegeben, die wegen ihrer potenziell weitreichenden Bedeutung für die Anwendung des Freizügigkeitsabkommens mit der Europäischen Union Kenntnisnahme und Diskussion verdient.

Auszug aus dem Urteil 6B_378/2018 vom  22. Mai 2019, 4.3.4.:

“(…) Wohl waren die Vertragsparteien nach der Präambel “entschlossen”, die Freizügigkeit auf der Grundlage der in der EG geltenden Bestimmungen “zu verwirklichen”. Das war eine Absichtserklärung hinsichtlich “einer harmonischen Entwicklung ihrer Beziehungen” (Präambel). In der Sache sind die Vertragsparteien aber übereingekommen, ein “Abkommen zu schliessen”, und zwar mit dem im Zweckartikel 1 lit. a-d FZA vereinbarten “Ziel” der “Einräumung” bestimmter Rechte, wozu die Parteien die erforderlichen Massnahmen treffen (Art. 16 Abs. 1 FZA). Zudem beschlossen die Vertragsparteien: “Soweit für die Anwendung des FZA Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs […] berücksichtigt”; französische Fassung: “il sera tenu compte de la jurisprudence pertinente de la Cour de justice”; italienische Fassung: “si terrà conto della giurisprudenza pertinente della Corte di giustizia” (Art. 16 Abs. 2 FZA). Nach den romanischen Wortlauten des FZA ist somit der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (nur, aber immerhin) “Rechnung zu tragen”. Der EuGH anerkennt sodann, dass die Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt nicht automatisch auf die Auslegung des FZA übertragen werden kann (oben E. 3.4.3). Das FZA ist ein partikulares Abkommen. Die Vertragsparteien vereinbarten keine Freizügigkeit, wie sie im schweizerischen Binnenrecht verwirklicht ist. Diese lässt sich nicht über die Rechtsprechung verwirklichen. Die Vertragsparteien vereinbarten (nach der deutschen Fassung) ausdrücklich die  Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH und normierten keinen völkerrechtlichen Vorrang des FZA vor dem Schweizer Landesrecht, namentlich dem Strafrecht.”

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Die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts hält sich bezüglich Landesverweisung offensichtlich nicht an die bisherige Praxis der öffentlich-rechtlichen Abteilung unter dem Personenfreizügigkeitsabkommen.

Zusammenfassung der Urteilsbesprechung von Astrid Epiney in Jusletter:

“Die Argumentation des Gerichts überzeugt nur bedingt und gibt im Übrigen keine wirkliche Antwort auf die Frage nach dem Vorrang des FZA.”

 

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