Gutachten von Walter Kälin und Stefan Schlegel / Daniel Thürer zur Rechtsprechung des EGMR, am Beispiel das Falls Perinçek

Am Donnerstag, 15. Mai 2014, stellte Professor Walter Kälin, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR), an einer Medienkonferenz in Bern das Gutachten „Schweizer Recht bricht Völkerrecht? Szenarien eines Konfliktes mit dem Europarat im Falle eines beanspruchten Vorranges des Landesrechts vor der EMRK“ vor. Dick Marty, vormals Ständerat und Mitglied der Schweizer Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, kommentierte es aus politischer Sicht: «Die Kündigung der Konvention würde jedem Bewohner unseres Landes einen wichtigen Schutz seiner Grundrechte entziehen.» Es sei beunruhigend zu sehen, mit wie wenig Engagement sich die Schweizer Politik für Aspekte interessiere, die ein zentrales Element einer liberalen Demokratie darstellten. «Kein politisches oder wahltaktisches Kalkül rechtfertigt, dass man den Schutz der Freiheit und der Grundrechte der Bürger/innen opfert oder abschwächt.»

Gutachten:

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Kontakt:

Andrea Huber, Koordinatorin AG Dialog EMRK, andrea.huber@humanrights.ch, Tel: +41 78 775 86 80

Fragen zum Inhalt der präsentierten Studie können an die Geschäftsstelle des SKMR gerichtet werden: Evelyne Sturm, Geschäftsführerin SKMR, evelyne.sturm@skmr.unibe.ch, Tel: +41 31 631 86 55

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Dass die Mitgliedsstaaten des Europarats in der Frage, wie sich der Menschenrechtsraum Europa und die „Strassburger“ Rechtsprechung weiterentwickeln sollen, keineswegs vor der Alternative „Bleiben oder Gehen“ stehen, sondern dass eine Reformdiskussion geführt wird, illustriert gleichentags eine Stellungnahme Professor Daniel Thürers in der NZZ zum Fall der Bestrafung des türkischen Politikers Doğu Perinçek in der Schweiz wegen Leugnung des Armenier-Genozids. Die Schweiz hat das erstinstanzliche Urteil, diese Strafe sei EMRK-widrig, an die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte weitergezogen.

Auszug aus dem Artikel Daniel Thürers:

„(…) Angesichts des in Europa fehlenden Konsenses in Grundsatzfragen und der Vielfalt von Rechtstraditionen und Institutionen, die bei der Bewältigung von Streitfällen bedeutsam sind, fragt sich, ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht auch schweigen könne und solle. Es wird geltend gemacht, dass er in so heiklen Fragen der politischen Moral nicht «ohne Not» in die Entscheidautonomie eines Mitgliedstaates eingreifen solle. Man verstehe mich nicht falsch: Ich bin der Letzte, der die enormen Verdienste des Gerichtshofes in Abrede stellen würde. Die Strassburger Richter waren, vor allem in den siebziger Jahren und dann in Transitionsländern, bahnbrechende Pioniere der Fortentwicklung der europäischen Rechtskultur. Sie hatten die Europäische Menschenrechtskonvention weit über ein anfänglich angestrebtes «SOS-System des Menschenrechtsschutzes» hinaus evolutiv zu einem autonomen, objektiven Wertesystem entwickelt. Es ist aber auch zu bedenken, dass in Europa eine Diversität von Rechtssystemen und rechtsphilosophischen Traditionen besteht und es gerade die Wertevielfalt und nicht die Uniformität der Regelung ist, die im Kern die Einheit Europas ausmacht.

Auch sage ich keineswegs, dass elementare Fragen der Güterabwägung nicht letztlich vor den Richter gehören. Nein, ich gebe vielmehr zu bedenken, dass die Staaten des Europarates – zum Teil gerade auf Basis der Konvention – selber ausgreifende Institutionen zum Schutze der Menschenrechte entwickelt haben. Im Fall Perinçek hatten drei staatliche Gerichte gestützt auf ein vom Volk angenommenes Gesetz überzeugende Urteile gefällt. Es fragt sich also, ob nicht die Strassburger Rechtsprechung, die gegenüber derjenigen der Staaten einen subsidiären Charakter besitzt, ihren «Einschätzungsspielraum» mit mehr Respekt vor den staatlichen Vorinstanzen nutzen solle.

In einem ausgereiften Menschenrechtssystem sollte das Verhältnis der Gerichtsinstanzen nicht nach dem Schema der hierarchischen Über- und Unterordnung, sondern aus der Dialektik der staatlichen und europäischen Instanzen heraus verstanden werden. Sollte also die Grosse Kammer des Gerichtshofs den Fall in der Sache entscheiden, so fragt sich, ob nicht die durchaus plausiblen Erwägungen und Akzente der staatlichen Vorinstanzen ernster genommen werden müssen. (…)“

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Die Schweiz hat die Reform in und nach der Europarats-Ministerkonferenz von Interlaken von 2010 kräftig gefördert und tut dies weiterhin.

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