Hintergründe und Lösungsansätze

Von Sven Zimmerlin

 

Seit geraumer Zeit klagen nicht mehr nur die Strafverfolgungsbehörden über einen Anstieg der Arbeitslast, sondern auch die Anwaltschaft und die Gerichte. Längst ist die Klage von den Medien aufgenommen und mit verschiedenen Akteuren der Strafjustiz diskutiert worden.

Das materielle Strafrecht sei in den letzten Jahren nachgerade explodiert, heisst es. Ferner habe das Strafprozessrecht mit der schweizweiten Vereinheitlichung das Verfahren unnötig verkompliziert. Mit dieser Normeninflation hätten die Strafbehörden – so wird geschlossen – nur schon personell nicht Schritt halten können, was umso schlimmer sei, als sich seither auch das Bevölkerungswachstum verstärkt habe.

Angesprochen sind damit die wesentlichen Säulen, auf denen die Strafjustiz gründet: Das materielle und formelle Strafrecht des Bundes sowie – in erster Linie, wenn auch mit Blick auf die Bundesgerichtsbarkeit nicht ausschliesslich – die kantonalen Behörden (Polizei, Staatsanwaltschaften) und Gerichte mit ihren Mitarbeitenden, welche dieses umsetzen.

 

Uferloses Strafrecht?

Tatsächlich dürfte sich bei näherer Betrachtung der seitenmässige Umfang des Strafgesetzbuchs in den mehr als acht Jahrzehnten seiner Geltung um mehr als die Hälfte ausgedehnt haben – eine Entwicklung, die umso erstaunlicher ist, als in dieser Zeit auch ganze Teile in eigene Gesetze ausgelagert wurden, etwa das Jugendstrafrecht ins Jugendstrafgesetz und das Strafregisterrecht ins Strafregistergesetz. Aus damals 401 Artikeln sind heute mehr als 430 geworden, deren Umfang sich im Einzelnen mitunter über mehr als eine ganze Textseite erstreckt.

Für das Strafgesetzbuch ist folglich zu Recht von einer Normeninflation die Rede. Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, ob diese auch zu einer justiziellen Mehrbelastung geführt hat.

Ein Blick in die Statistiken, namentlich in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) und in die Statistik der Verurteilungen, zeigt nämlich, dass in der Zeit von 2009 (seit dann besteht eine schweizweite PKS) bis 2022 (bis zu diesem Jahr liegen aktuell die relevanten Daten vor) zwar die Anzahl der Delikte zurückgegangen, die Zahl der Verurteilung indes angestiegen ist. Dieses Paradox lässt sich zumindest ansatzweise mit einer höheren Aufklärungsquote erklären, wobei zu vernachlässigen ist, dass die rechtliche Würdigung der Justiz von jener der Polizei abweichen kann. Lag die Aufklärungsquote im Jahre 2009 noch bei gerundeten 28%, so betrug sie 2022 bereits 41%. Mehr aufgeklärte Delikte verursachen den Strafbehörden selbstredend zusätzliche Arbeit.

Die gleichen Statistiken lassen jedoch auch erkennen, dass nicht etwa neue Tatbestände und mit ihnen die angesprochene Normenflut zur Mehrbelastung geführt haben. Nach wie vor sind es die «klassischen» Delikte, die den weitaus grössten Teil der angezeigten wie auch der zu einer Verurteilung führenden Straftaten ausmachen, während neue Tatbestände des Kernstrafrechts (z.B. Verstümmelung weiblicher Genitalien, Zwangsheirat oder Verschwindenlassen) im tiefen einstelligen Bereich liegen oder gar gegen null tendieren. Weshalb gewisse Delikte eine höhere Aufklärungsquote aufweisen, wäre empirisch vertieft zu untersuchen; dass eine Verlagerung in den digitalen Bereich dazu beiträgt, könnte eine Ausgangshypothese sein.

Allerdings wurde nicht nur der Besondere, sondern auch der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs revidiert, und zwar radikal. Diesbezüglich ist von einer eigentlichen punitiven Wende («punitive turn») die Rede, etwas zugespitzter gar von einer Politisierung des Strafrechts und einer Ethnisierung der Kriminalität (Stephan Bernard). Einfacher sind die Untersuchungen und Gerichtsverfahren dadurch sicher nicht geworden. So fristete das lebenslängliche Tätigkeitsverbot betreffend Minderjähriger oder besonders schutzbedürftiger Personen nach seinem Inkrafttreten zunächst ein Schattendasein, während die Zahlen in den Jahren 2020 bis 2022 stark angestiegen sind. Zu dieser zeitlichen Verzögerung wird auch die Ausschöpfung des Rechtsmittelwegs beigetragen haben. Die Landesverweisungen haben seit 2016 ebenfalls zugenommen und liegen inzwischen bei ca. 2’000 jährlich. Zwar obliegt die Anordnung solcher Sanktionen den Gerichten, die Staatsanwaltschaften klären aber die Voraussetzungen ab und stellen entsprechende Anträge. In dieser Arbeit liegt sicher ein zusätzlicher Aufwand, den der Verfassungs- und der Gesetzgeber den Strafbehörden verursacht haben.

Vergleichbare Entwicklungen lassen sich beim Nebenstrafrecht ausmachen, also beim Strassenverkehrs-, Betäubungsmittel- und Migrationsstrafrecht. Um es abzukürzen: Die Strafbestimmungen in diesen Gesetzen haben keine gravierenden Änderungen erfahren; wohl aber hat sich der verwaltungsrechtliche Teil, auf den diese Bestimmungen Bezug nehmen, recht stark ausgedehnt. Allerdings ist die Gesamtzahl der Verurteilungen wegen (Verbrechen oder) Vergehen gegen das Strassenverkehrsgesetz in der Zeit von 2008 bis 2022 praktisch stabil geblieben, was vermuten lässt, dass eine allfällige Zunahme von Fällen nicht auf einen Zuwachs an Strafbestimmungen in diesem Bereich zurückgeführt werden kann. Bei den Taten gegen das Betäubungsmittelgesetz, zumal bei den schweren, zeigt sich sowohl bei den Falleingängen (PKS) als auch bei den Verurteilungen im erwähnten Zeitraum ein Rückgang. Demgegenüber sind die Delikte gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz um fast einen Drittel angestiegen, die verurteilten Personen noch um einen Viertel; dies freilich bereits zu Beginn der 2010er-Jahre. Eine allzu deutliche Zusatzbelastung der Behörden dürfte daraus aber ebenfalls nicht resultiert haben, können doch Migrationsdelikte nicht selten mit einem überblickbaren Aufwand erledigt werden. Ohnehin aber wäre die Mehrarbeit in diesem Bereich kaum einer Inflation an Strafbestimmungen geschuldet. Delikte gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz richten sich, wenn auch mit gewissen Verzögerungen, nach den für Zentraleuropa relevanten Migrationsbewegungen. Diese wiederum hängen von der weltweiten humanitären Lage und der wirtschaftlichen Situation ab.

Die zahlreichen Novellen, welche das Strafgesetzbuch in den vergangenen Jahren erfahren hat, zumal in dieser hohen Frequenz, haben die Übersicht über das, was gilt, gewiss nicht erleichtert. Dass aber eine Normeninflation, eine Flut von neuen Bestimmungen im Kern- und Nebenstrafrecht, zur Mehrbelastung der Strafjustiz geführt hat, ist stark verkürzt, wenn nicht sogar falsch.

 

Ungenügende Ressourcen?

Die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz ist in der Zeit von 2009 bis 2022 um mehr als 13% auf über 8.8 Mio. Personen angewachsen; in Zürich als dem bevölkerungsreichsten Kanton hat die ständige Wohnbevölkerung derweil um knapp 17% auf nahezu 1.6 Mio. Menschen zugenommen. Mit diesem Bevölkerungswachstum konnte beispielsweise die Bestandesentwicklung der Kantonspolizei Zürich auf 2’383 Korpsangehörige im Jahr 2022 einigermassen Schritt halten, entspricht dies doch einer Zunahme um mehr als 13%; diese bezieht sich allerdings auf das gesamte Korps, nicht nur auf die kriminalpolizeilich tätigen Dienste.

Nicht berücksichtigt sind in dieser Rechnung zudem auch die anderen im kriminalpolizeilichen Bereich arbeitenden Polizeikorps im Kanton Zürich (Stadtpolizei Zürich, Stadtpolizei Winterthur). Ähnliches gilt für die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, die für den besagten Zeitraum eine Zunahme um fast 25% auf 392 Vollzeiteinheiten (alle Berufsgruppen) aufweist, während die Neueingänge der Geschäfte um knapp 14% angestiegen sind.

Schon bei der Polizei galt, dass die Entwicklung des Korpsbestands nur ungefähr darüber Auskunft gibt, ob man mit dem Bevölkerungswachstum und der Kriminalitätsentwicklung mitziehen konnte. Für die ordentlichen Gerichte gilt noch stärker, dass die Strafrechtspflege nur einen – wenn auch gewichtigen – Teil ihrer Aufgaben ausmacht; Aussagen zur Bestandesentwicklung sind bei den Gerichten folglich noch vorsichtiger zu interpretieren. Das Obergericht des Kantons Zürich wies für das Jahr 2022 46 Stellen für Richterinnen aus, dazu 95 Stellen für Gerichtsschreiber; auf Stufe der Bezirksgerichte betrugen die äquivalenten Zahlen 147 und 239 Stellen (gerundet). Beim Obergericht sind beide Berufsgruppen seit 2009 um ca. einen Sechstel angestiegen, was bei den Bezirksgerichten nur auf die Gerichtsschreiber zutrifft, während die dortigen Stellen für Richterinnen um 8% angewachsen sind.

Der Zuwachs an Personalressourcen bei den Strafbehörden bildet das Bevölkerungswachstum demnach recht gut ab. Dasselbe gilt für den Anstieg der Pendenzenlast der Staatsanwaltschaften. Demgegenüber ist die Geschäftslast insbesondere der Gerichte überproportional angestiegen, was mit der höheren Aufklärungsquote nur teilweise erklärt werden kann. Diese Entwicklung könnte auch eine gewisse Prozessfreudigkeit widerspiegeln, die ihrerseits zumindest auf Stufe Obergericht in einem beschwerdefreundlichen Prozessrecht gründet. Aufhorchen lässt zudem, dass gemäss entsprechenden Anträgen des Obergerichts an den Kantonsrat selbst die Gerichte die Teilnahmerechte an Beweiserhebungen und das Entsiegelungsverfahren für eine Mühsal zu halten scheinen – eine Auffassung, die den Staatsanwaltschaften schon länger eigen ist.

 

Kompliziertes Prozessrecht?

Wiewohl erst knapp 14 Jahre alt, weist auch die Strafprozessordnung schon eine eindrückliche Zahl von Änderungen auf; es sind ungefähr deren 40, was mehr als 20 eingeschobenen Artikeln entspricht. Im März 2013 erhielt das Gesetz eine Legaldefinition des Begriffs der verdeckten Ermittlung und einen Abschnitt zur verdeckten Fahndung. Im Mai 2018 wurde das Gesetz bei den geheimen Überwachungsmassnahmen an neue technische Erfordernisse angepasst, um gesetzliche Grundlagen für den Einsatz besonderer technischer Überwachungsgeräte und Informatikprogramme zu schaffen. Erst seit Spätsommer 2023 gelten die neuen Vorschriften zu den DNA-Analysen, die bei Verbrechen eine Phänotypisierung anhand von fünf Merkmalen (Augen-, Haar- und Hautfarbe, biogeografische Herkunft und Alter) sowie einen Suchlauf nach Verwandtschaftsbezug erlauben.

Schliesslich wurde die Strafprozessordnung auf Anfang Jahr hin zwar nicht gerade umfassend im Sinne einer Totalrevision, aber doch recht weitreichend geändert. Dazu ist zu sagen, dass neue Rechte der Verfahrensbeteiligten und neue Pflichten der Strafbehörden, so angebracht sie in der Sache auch sein mögen, in der Praxis fast immer einen Zusatzaufwand verursachen, zumindest bis sich die neuen Regelungen eingespielt haben. Mit der jüngsten Revision nicht geändert wurden die Teilnahmerechte, der am häufigsten kritisierte Punkt des bis Ende 2023 geltenden Rechts. Moderat angepasst, aber nicht aufgehoben – wiewohl von der Praxis bereits frühzeitig gefordert – wurde das Siegelungsrecht.

Für das Strafprozessrecht gilt, wie für das materielle Strafrecht, dass nicht so sehr ein starker Anstieg an Normen in den letzten Jahren die Arbeitsbelastung der Justiz erhöht hat. Viel eher ist die eigentliche Crux in dem zu erblicken, was diese neuen Vorschriften regeln. Welche Tatbestände des materiellen Rechts angewendet werden, hängt von mehreren Faktoren ab: Von der Kriminalitätslage generell, vom Anzeigeverhalten der Geschädigten und von der Eigeninitiative der Polizei bei opferlosen Delikten. Manche Dinge lassen sich einigermassen steuern (beispielsweise verdeckte polizeiliche Tätigkeiten im Betäubungsmittelbereich), andere tendenziell weniger (z.B. die Anzeigequote von Vermögensdelikten, oder Migrationsbewegungen). Kompliziert geworden ist in materieller Hinsicht vor allem das Sanktionenrecht. Zudem könnte die Verlagerung von Delikten in den digitalen Bereich höhere Aufklärungsquoten mit sich bringen. Strafprozessual entsteht der Eindruck, dass die jüngst (nicht) vorgenommenen Änderungen des Gesetzes vor allem dazu dienen sollten, den privaten Verfahrensbeteiligten (beschuldigten und geschädigten Personen, Kindern als Opfer) zu helfen, ohne zu berücksichtigen, welcher Zusatzaufwand für die Verfahrensleitungen damit verbunden ist.

Eine ausführliche Diskussion darüber, wo am besten anzusetzen wäre, um dem beklagten Missstand abzuhelfen, würde hier sicher zu weit führen. Schaut man dennoch ein wenig genauer hin, so zeigen sich immerhin gewisse Lösungsansätze.

 

Lösungsansätze

Das Teilnahmerecht von beschuldigten Personen an Einvernahmen von Mitbeschuldigten sollte aufgehoben werden; es lässt sich weder historisch (beispielsweise, wenn es mit dem bis Ende 2010 geltenden Zürcher Strafprozessrecht verglichen wird) noch geltungszeitlich (namentlich, wenn man ihm den heutigen Jugendstrafprozess gegenüberstellt) restlos nachvollziehbar begründen. Das Siegelungsrecht wurde bereits leicht modifiziert; hier könnten zusätzliche Fristerfordernisse und Klärungen beim Rechtsschutz gewisse Erleichterungen bringen. Bei dem auch nach Auffassung der Gerichte sehr weit gehenden Beschwerderecht liessen sich allenfalls die Anfechtungsobjekte oder die Beschwerdegründe einschränken, ohne die Rechtsstaatlichkeit des Vorverfahrens über Gebühr zu beeinträchtigen. Systemfremd und in der Umsetzung besonders dornenvoll sind die erweiterten Rechte der Privatklägerschaft hinsichtlich ihrer Zivilansprüche im Strafbefehlsverfahren; sie könnten ohne grossen Verlust gleich wieder aufgehoben werden, zumal etliche Aspekte in diesem Zusammenhang nicht zu Ende gedacht sind.

Umgekehrt erweist sich das Strafbefehlsverfahren in seiner heutigen Ausgestaltung als zu effizienzgetrieben; es sollte entweder durch zusätzliche rechtsstaatliche Kautelen (Ausdehnung der Einvernahmepflicht beispielsweise auf schwere Vergehen und Verbrechen; Pflicht, vorgängig das ausdrückliche Einverständnis der beschuldigten Person zum Urteilsvorschlag einzuholen) abgesichert, oder aber auf wirkliche Bagatelldelikte eingeschränkt werden. Eine solche Einschränkung dürfte allerdings im Bereich der mittelschweren Kriminalität im Vorfeld des abgekürzten Verfahrens zu einem Mehraufwand führen. Dass neuerdings bei in Aussicht stehender unbedingter Freiheitsstrafe zwingend eine Einvernahme zu erfolgen hat, kompensiert die fehlende Rechtsstaatlichkeit dieses Verfahrens ausserhalb des Bereichs der Bagatellfälle nur unzureichend. Auch beim abgekürzten Verfahren wird nicht zu Unrecht gefordert, die Staatsanwaltschaft müsse die Absprache oder doch zumindest ihre wesentlichen Grundzüge protokollieren, jedenfalls aber ihr Ergebnis; desgleichen habe sie ihre Entscheidung über das abgekürzte Verfahren, zumal im Falle einer Ablehnung, zu begründen und der Beschwerde zu unterstellen.

Die Schweiz hat sich entschieden, kleinere und mittlere Delinquenz mit nahezu flächendeckender «Strafbefehlisierung» zu lösen; unsere Strafjustiz ist also reichlich «urteilshungrig». In diesem Zusammenhang sollte im Hinblick auf künftige Revisionen zum einen gefragt werden, ob gegenüber dem heute rigiden Verfolgungszwang nicht ein deutlich stärkeres Opportunitätsprinzip angebracht sein könnte; zum andern fehlen den Strafbehörden heute weitgehend Möglichkeiten zur Diversion, wie sie aus anderen Verfahrensordnungen bekannt sind (insbesondere aus Deutschland und Österreich).

Inwiefern das heute nur gemässigte Opportunitätsprinzip zugunsten eines grösseren Entscheidungsspielraums der Strafbehörden erweitert werden könnte, hängt von den Vorstellungen ab, welche die Gesellschaft mit dem Strafrecht überhaupt, resp. mit dem Zweck staatlichen Strafens verknüpft; darüber Gewissheit zu erlangen, wäre das Gebot der Stunde an den Gesetzgeber. Geht es bloss – um Beispiele zu nennen – um die geordnete Abwicklung eines Konflikts und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens, oder sollen auch general- sowie spezialpräventive Zwecke verfolgt werden und möglichst viel Rechtsgleichheit hergestellt werden? Ein starker Ausbau des Opportunitätsprinzips dürfte freilich bald einmal ein anderes Strafverfolgungsmodell nahelegen; so hatten die Kantone Waadt, Neuenburg, Genf und Jura früher ein unbeschränktes Opportunitätsprinzip gekannt und waren damals dem sogenannten Staatsanwaltschaftsmodell I mit einem unabhängigen Untersuchungsrichteramt gefolgt – ein Modell, das aus rechtsstaatlicher Sicht verschiedene Vorteile aufweist und besonders dem oft wiederholten Argument des Machtzuwachses der Staatsanwaltschaft entgegentreten könnte.

Was die Diversion anbelangt, so wird damit versucht, bei Delikten im unteren und mittleren Kriminalitätsbereich auf ein förmliches Strafverfahren und die Verhängung von Sanktionen zu verzichten, um stattdessen eine «Ablenkung» auf informelle Erledigungsarten vorzunehmen; dabei ist zu unterscheiden, ob sich ein Entscheid wie beim Opportunitätsprinzip im blossen Absehen von der Strafverfolgung erschöpft, oder ob ein solches Absehen unter Auflagen erfolgt. Ein Ausbau der Möglichkeiten diversioneller Verfahrenserledigungen liesse sich in Beachtung des aktuellen Standes der historischen Entwicklung unseres Strafprozesses sogar systemkonform ausgestalten. Der Gesetzgeber könnte den Strafbehörden für verschiedene Fallkonstellationen die Möglichkeit einer Sistierung des Verfahrens unter Auflagen und Weisungen einräumen. Anschauungsmaterial existiert genug, etwa bei der Möglichkeit der Sistierung des Verfahrens in Fällen von Partnerschaftsgewalt unter Auferlegung eines Lernprogramms oder bei den entsprechenden Bestimmungen im deutschen Recht (Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Weisungen), deren Entlastungsfunktion – so heisst es – nicht hoch genug eingeschätzt werden könne.

Mit der angelsächsisch geprägten Europäischen Menschenrechtskonvention hat sich unser Strafprozess zusehends von einem inquisitorischen zu einem adversatorischen Parteienverfahren entwickelt – eine Entwicklung, die noch nicht zu Ende ist. Auch dies spricht dafür, den Staatsanwaltschaften grösseres Opportunitätsermessen und mehr Möglichkeiten zur diversionellen Verfahrenserledigung einzuräumen. Dass solche Neurungen wiederum mit gewissen Vorsichtsmassregeln abzusichern wären, damit die Rechtsgleichheit nicht darunter leidet, ist evident, tut ihrer Berechtigung aber keinen Abbruch.

 

Alternativen

Die Frage nach denkbaren Optionen, die Strafbehörden zu entlasten, führt unweigerlich zur Suche nach alternativen Möglichkeiten der Konfliktbewältigung und diese wiederum geradewegs zu Mediation und Restaurativer Justiz. Tatsächlich hat sich die Mediation im Zuge der Restorative Justice-Bewegung von den USA über die französischsprachigen Länder nach Europa ausgebreitet. Und nach wie vor kennt beispielsweise der Kanton Genf eine «médiation pénale». Beim Versuch, die Mediation in die vereinheitlichte Strafprozessordnung aufzunehmen, wurde im Parlament zurecht gesagt, dass sie «a suivi un clivage Latins/Alémaniques». Nun ist Mediation zwar ein für die Beteiligten sicher mit etlichen Vorteilen verbundener «processus librement consenti au cours duquel deux parties à un conflit né d’un infraction pénale participent activement à sa résolution avec l’aide d’un tiers médiateur, neutre, indépendent et imparial» (Camille Perrier Depeursinge). Allerdings dürfte eine «eindimensionale Ausrichtung der Mediation auf das Ziel, bloss das Zustandekommen einer Vereinbarung zu erreichen (damit das Strafverfahren eingestellt und die Justiz entlastet werden kann), […] mit Blick auf die Rolle dieses Verfahrens als soziale Reaktion auf eine Straftat grundsätzlich ungenügend» sein (Veio Zanolini). Die Effizienzsteigerung bei der Strafjustiz zählt nicht zu den Gründen, die für eine Einführung der Mediation in den schweizerischen Strafprozess sprechen, weil dieser Zweck weder dem Wesen noch der Ratio einer Mediation entspricht, sondern gegebenenfalls nur als Nebeneffekt hinzutritt.

Das Gleiche gilt, a fortiori, für Verfahren der restaurativen Justiz. Für die Schweiz hält das Swiss RJ Forum in Anlehnung an Daniel W. van Ness et al. fest, dass eine restaurative Justiz die Kriminalität primär als Verletzung (anstatt als Gesetzesbruch) betrachte und Heilung zum Ziel habe (nicht Strafe allein); die restaurative Justiz unterstreiche die Verantwortlichkeit der Täter, ihre Handlungen zu ändern, und konzentriere sich auf die Bereitstellung von Hilfe- und Dienstleistungen für die Opfer, wobei das Ziel in der erfolgreichen Wiedereingliederung von Opfern und Tätern als produktive Mitglieder sicherer Gemeinschaften bestehe. Nach Auffassung des Europarats beschreibt der Terminus der Justice Restaurative «tout processus permettant aux personnes qui ont subi un préjudice résultant d’une infraction et aux responsables de ce préjudice de participer activement, s’ils y consentent librement, au règlement des problèmes résultant de l’infraction, avec l’aide d’un tiers qualifié et impartial […].» Nur schon diese erste Annäherung an die restaurative Justiz macht klar, dass mit ihrer Einführung ins schweizerische System der Strafrechtspflege keine Entlastung der Behörden einherginge. Eine restaurative Justiz sollte nicht nur keine Beschleunigung des Verfahrens oder eine Reduzierung des Arbeitsaufwands anstreben; vielmehr dürften ihr solche Ziele nachgerade zuwiderlaufen, weil ihnen auch ein gewisses Potenzial zur Druckausübung auf die Beteiligten innewohnt. Dass möglicherweise eine Entlastung der ordentlichen Strafbehörden mit einer Verlagerung in eine alternative Form der Konfliktbewältigung erzielt werden könnte, darf somit auch bei restaurativen Verfahren nicht mehr als ein nicht direkt bezweckter Nebeneffekt sein.

 

Schluss

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nicht etwa die Ausdehnung des materiellen (Neben-)Strafrechts zu einer Mehrbelastung der Strafjustiz geführt hat, sondern vielmehr – neben einem Anstieg der Kriminalität in den Jahren 2023 und 2024 – das recht komplizierte Sanktionenrecht und gewisse strafprozessuale Regelungen. Manche davon könnten ohne Abstrich an der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens aufgehoben, andere eingeschränkt werden. Umgekehrt wären Überlegungen zum Ausbau des Opportunitätsprinzips, zur Einführung von neuen oder zur Ausweitung von bestehenden Diversionsmöglichkeiten oder sogar zum Wechsel des Strafverfolgungsmodells anzustellen, sofern man der mancherorts tatsächlich hohen Arbeitsbelastung die Spitze brechen und das «urteilshungrige» Strafverfahren im unteren Bereich der Kriminalität in Richtung einer liberalen Strafjustiz bewegen möchte. Die «kurzen Prozesse» (Strafbefehlsverfahren, Abgekürztes Verfahren) noch weiter auszudehnen, wäre mit ihrer heutigen Ausgestaltung kaum mehr vertretbar, zu sehr beschnitte man damit die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person.

Mediation und Restaurative Justiz verdienen allenfalls durchaus eine vertiefte Betrachtung, dies aber nicht unter dem Titel der Entlastung der Strafjustiz. Abzuwarten bleibt, ob künftig die Wiedereinführung eines Privatstrafklageverfahrens angeregt wird – eine Richtung, in welche die neu eingeführte Kautionspflicht bei Ehrverletzungsdelikten zeigt.

 

Dr. iur. Sven Zimmerlin ist Dozent für Strafrecht und Strafprozessrecht an der ZHAW und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Er war während 15 Jahren als Jurist in leitender Stellung bei der Polizei und in der Strafjustiz tätig. Der vorliegende Artikel basiert auf seinem soeben bei Schulthess erschienenen Buch Überlastung der Strafjustiz – Hintergründe und Lösungsansätze.