Walter Haller, emeritierter Professor der Universität Zürich für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Verfassungsvergleichung, äussert sich auf Anfrage von «Unser Recht» erneut zur Bedeutung zweier Obiter Dicta (nicht entscheidrelevanten Stellungnahmen) der II. Öffentlich-Rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts zugunsten des Vorrangs völkerrechtlicher Verpflichtungen vor entgegenstehenden Verfassungsbestimmungen:

«Das Verhältnis zwischen Staatsverträgen (wie EMRK und FZA, soweit es sich nicht um zwingendes Völkerrecht handelt) und Bundesverfassungsrecht sowie die Bedeutung der „Schubert-Praxis“ in diesem Zusammenhang ist in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung weiterhin nicht geklärt. Die beiden diesbezüglichen, in der politischen Diskussion überbewerteten Aussagen einer Mehrheit der II. Öffentlich-Rechtlichen Abteilung sind blosse Obiter Dicta und nicht „Entscheide“, denen die Vereinigung der betroffenen Abteilungen gemäss Art. 23 Abs. 1 BGG hätte zustimmen müssen. Für andere Abteilungen haben sie keine präjudizielle Bedeutung, wie Frau Fontana in der NZZ zutreffend feststellte. Auch für andere Bundesbehörden sind sie nicht mehr als interessante Meinungsäusserungen.

Würde die Durchsetzungsinitiative angenommen (horribile dictu!), so käme die II. Öffentlich-Rechtliche Abteilung wohl ziemlich bald in die Situation, in einem Ausweisungsfall über das Verhältnis (nicht zwingendes) Völkerrecht / Landesrecht entscheiden zu müssen. M.E. hätte sie dann, wenn sie erwartungsgemäss dem Völkerrecht den Vorzug gibt, gemäss Art. 23 Abs. 2 BGG vorher die Zustimmung der Vereinigung aller betroffenen Abteilungen (das wären wahrscheinlich alle anderen Abteilungen) einzuholen. Entscheidend ist dabei, ob es sich um ein Vorlagerecht oder um eine Vorlagepflicht handelt. Diese Frage wird im BGG-Kommentar von Giovanni Biaggini und Stephan Haag ausführlich erörtert. Mit überzeugender Begründung kommen sie zum Schluss, dass die Vorlage nicht im Belieben der erkennenden Abteilung liegt (was Frau Fontana anzunehmen scheint), dass jedoch umgekehrt die Pflicht, den Beschluss der Vereinigung der betreffenden Abteilungen einzuholen, nicht leichthin anzunehmen ist. In casu ginge es aber um eine für die Einheit der Rechtsprechung und die Rechtsordnung insgesamt kardinale Frage. Daher müsste von einer Vorlagepflicht ausgegangen werden.»

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