von Dr. iur. Dominik Elser, Geschäftsleiter des Vereins «Unser Recht»
Vorbemerkung: Beachten Sie auch den später erschienen Nachtrag zu diesem Beitrag.

Kurz nachdem das Covid-19-Gesetz auch in der zweiten Referendumsabstimmung deutlich angenommen wurde erschloss sich die Schweizer Corona-Diskussion ein neues Feld: die Impfpflicht. Unter dem Eindruck stark ansteigender Fallzahlen und knappen Kapazitäten auf Intensivstationen fragte etwa der SRF Club vom 30. November 2021: «Wäre eine Impfpflicht der Ausweg aus der Pandemie? Warum fürchtet die Politik diese Diskussion?» Daraufhin schlug diese Diskussion medial hohe Wellen, politisch bewegte sich allerdings wenig. Eine obligatorische Covid-Impfung scheint weiterhin alles andere als mehrheitsfähig zu sein. Die Debatte wurde auf unbestimmte Zeit auf Pause gestellt, als die Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin, Prof. Dr. iur. Andrea Büchler, mit Nachdruck eine Impfpflicht als unverhältnismässig, möglicherweise ungeeignet und gesellschaftlich spaltend ablehnte (so in einem NZZ-Gastkommentar vom 9. Dezember 2021). Schlussendlich überwiege die Selbstbestimmung.

Der Verein «Unser Recht» will diese Diskussion einordnen und die rechtsstaatlichen Eckpunkte aufzeigen. Vorab ein Wort zu den Begriffen: eine Impfpflicht ist kein Impfzwang. Die Pflicht beschreibt eine rechtlich verbindliche Vorgabe, der Zwang wäre deren (nötigenfalls gewaltsame) Durchsetzung. Diese beiden Vorgänge sind gesondert zu handhaben. Hingegen sind Impfpflicht und Impfobligatorium austauschbar. Das geltende Recht – wir gehen später detailliert darauf ein – spricht von Impfobligatorium, in der öffentlichen Debatte hat sich die Rede von der Pflicht durchgesetzt.

Der übliche verfassungsrechtliche Rahmen

Ob eine Impfpflicht in einem Rechtstaat überhaupt eine zulässige Massnahme sein kann, ist schnell beantwortet: ja. Grundsätzlich ist eine Impfpflicht ein staatlicher Eingriff in private Rechtspositionen wie jeder andere auch und ist unter den üblichen Voraussetzungen der Verfassung zulässig. Der Eingriff muss auf einer genügenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.

Ein Zwischenergebnis vorab: Für eine allgemeine Impfpflicht gegenüber der gesamten Bevölkerung bezüglich Covid-19 fehlt aktuell die gesetzliche Grundlage. Das Covid-19-Gesetz äussert sich nicht dazu und das Epidemiengesetz gibt Bund und Kantonen nur die Möglichkeit, «Impfungen bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären.» (Art. 6 Abs. 2 Bst. d EpG, Kompetenz des Bundesrats in der besonderen Lage, beziehungsweise Art. 22 EpG mit der grundsätzlichen Kantonskompetenz).

Ein öffentliches Interesse an einer obligatorischen Covid-19-Impfung wäre schnell zu finden: die öffentliche Gesundheit und insbesondere die möglichst baldige Rückkehr zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Normalität. Alle Massnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 werden mit der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt. Wollte man eine Impfpflicht einführen, müsste das öffentliche Interesse möglichst präzise benannt werden, um die Verhältnismässigkeit der Massnahme zu beurteilen. Stünden etwa die Kapazitäten auf Intensivstationen im Vordergrund und damit das Interesse, dringende Operationen nicht länger aufschieben zu müssen und die Belastung des Pflegepersonals zu verringern. Oder stellte man den zeitlichen Aspekt in den Vordergrund und fasste das baldmöglichste Ende der Pandemie ins Auge. Ferner könnte man an das Interesse der Geimpften denken, keine weiteren Einschränkungen zu erdulden. Oder sogar an das Interesse der Ungeimpften, unter dem Schutzschirm einer staatlichen Pflicht ihr Gesicht wahren zu können und sich doch noch impfen zu lassen. Dieser letzte Vorschlag mag zynisch klingen. Er soll jedoch aufzeigen, dass eine Impfpflicht mit anderen Zielen gerechtfertigt werden könnte als die übrigen Corona-Bekämpfungsmassnahmen.

Ob ein Impfobligatorium verhältnismässig wäre, hängt von vielen Umständen ab: Bezogen auf welches spezifische öffentliche Interesse ist die Beurteilung vorzunehmen? Was ist der aktuelle Stand der Impfquote, der Infektionen, der Hospitalisierungen und der Auslastung von Intensivstationen? Und wie würde die Pflicht genau durchgesetzt?

Die Eckpunkte der Abwägung sind allerdings bekannt: Ganz grundsätzlich müsste das Obligatorium geeignet sein, die Impfquote auch tatsächlich zu steigern. Das wäre wohl etwas, das bloss in der Praxis widerlegt werden könnte, woraufhin die Pflicht dann umgehend auszusetzen wäre. Abgesehen davon wäre die Impfpflicht unzulässig, sofern und solange mildere Mittel bestehen, mit denen das öffentliche Interesse erreicht werden kann. Deshalb wäre wohl der zeitliche Aspekt der Zielvorgabe entscheidend. Auch mit nur sehr langsam zunehmender Impfquote käme die Pandemie wohl irgendwann zu einem Ende oder könnten zumindest die schweren Verläufe gebannt werden. Für eine Impfpflicht spräche wohl vor allem die erhoffte baldige Bewältigung der Pandemie.

Die Verhältnismässigkeit kennt zudem einen persönlichen, individuellen Aspekt: die Zumutbarkeit. Kann der einzelnen Person zugemutet werden, den Eingriff zu erdulden. Hier unterscheidet sich die Impfpflicht massgeblich vom viel härteren Impfzwang. Die zwangsweise und gewaltsame Verabreichung einer Arznei gegen den ausdrücklichen Willen ist wohl eine Massnahme, von der eine freiheitliche Staatsordnung unter allen Umständen absehen sollte. Obligatorien jedoch werden den Bewohnerinnen und Bewohner dieses Rechtsstaat in vielfacher Weise zugemutet: zur Schule gehen, den Wohnsitz anmelden, Steuern zahlen, Sicherheitsgurte im Automobil – allerlei Pflichten sind zu ertragen. Auch eine Impfpflicht kann grundsätzlich zumutbar sein.

Das Impfobligatorium nach Epidemiengesetz

Die bereits erwähnte Ausgangslage im geltenden Recht ist relativ klar. Kantone dürfen in jeder epidemiologischen Lage Impfungen für gewisse Bevölkerungs- oder Berufsgruppen für obligatorisch erklären, «sofern eine erhebliche Gefahr besteht» (Art. 22 EpG). Der Bundesrat hat diese Kompetenz in der besonderen Lage – in der wir uns bezogen auf Covid-19 aktuell noch befinden –, und dann ohne diesen letzten Zusatz.

Diese Bestimmungen wurden bei der Beratung über das neue Epidemiengesetz 2011 und 2012 brisant diskutiert. Das vorherige Epidemiengesetz kannte das Impfobligatorium gar ohne Beschränkung auf bestimmte Gruppen.

Der Bundesrat führte in der Botschaft aus: 

«Obligatorische Impfungen stellen einen Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) dar. … Ein Impfobligatorium für bestimmte Personenkreise könnte sich bei einer schweren, sich rasch verbreitenden und in vielen Fällen tödlich endenden Infektionskrankheit aufdrängen. Diese strategische Option ist für den Fall vorbehalten, dass das Ziel mit anderen Massnahmen nicht erreicht werden kann. Impfobligatorien, z.B. bei Schuleintritt, waren bis vor Kurzem noch in vielen kantonalen Gesetzen vorhanden. Auch in den USA gilt ein Impfobligatorium für den Schulbesuch.» (BBl 2011 311, 380)

Im Parlament wurde sodann die soziale Verantwortung angeführt: Nationalrätin Silvia Schenker SP/BS führte etwa aus: 

«Wir haben als Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber die Pflicht, die Schwächsten vor einer möglichen Ansteckung zu schützen. Aus diesem Grund sollten wir dem Bund die Kompetenz geben, in besonderen Lagen und unter restriktiven Bedingungen Impfungen für obligatorisch zu erklären.» (AB 2012 N 316)

Auch eine Mehrheit der SVP sprach sich für das Impfobligatorium aus. So hielt Nationalrat Jürg Stahl SVP/ZH fest, dass 

«bei einer aussergewöhnlichen Situation eben durchaus Massnahmen getroffen werden können und das Gut der allgemeinen Gesundheit höher zu gewichten ist als die individuelle Freiheit allein.» Ausserdem gäbe es den «Anspruch der Bevölkerung, sich in Krisensituationen gut aufgehoben zu fühlen.» (AB 2012 N 316 f.)

Es gab aber auch deutliche Gegenstimmen aus der Fraktion, die im Nationalrat von Yvette Estermann vertreten wurden (SVP/LU): 

«Ich erachte das geplante Impfobligatorium aber als unschweizerisch. Die Schweizerische Eidgenossenschaft gründet ihren Erfolg auf die Eigenverantwortung und die Freiheiten des Einzelnen. Sie wertet diese sogar höher als die – in diesem Falle trügerische – Sicherheit. Das Vertrauen in ihre Bürger hat die Schweiz stark gemacht, und so soll es auch bleiben.» (AB 2012 N 316)

Im Ständerat kam Widerstand gegen das Impfobligatorium auch von der Sozialdemokratischen Partei. So Liliane Maury Pasquier (SP/GE): 

«Je ne remets aucunement en cause l’utilité des vaccinations quand elles sont bien ciblées et que leur bénéfice est incontestable. Je pense simplement que l’obligation revient en fait à un constat d’échec» (AB 2012 S 390).

Schlussendlich wurden die Bestimmungen ins Gesetz aufgenommen und auch an der Volksabstimmung vom 22. September 2013 mit 60.0 % Ja-Stimmen angenommen. In seinen Abstimmungserläuterungen wies der Bundesrat darauf hin, dass das Impfobligatorium «stark eingeschränkt» würde. Dennoch stand das Impfobligatorium an oberster Stelle der Nein-Argumente.

Die gesetzliche Lage darf nach dieser Entstehungsgeschichte so zusammengefasst werden: Die staatliche Massnahme der obligatorischen Impfung ist direktdemokratisch hoch legitimiert. Sie wurde eingehend diskutiert und für grundsätzlich zulässig befunden. Die öffentliche Gesundheit, der Schutz der Schwachen und die Solidarität können eine Impfpflicht notwendig machen. Allerdings, und das ist mit Blick auf Covid-19 entscheidend, wurde das Obligatorium auf besonders gefährdete oder besonders betroffen Personen eingeschränkt. Für eine breit angelegte Impfpflicht müsste der Entscheid von Gesetzgeber und Stimmbevölkerung neu gefällt werden. Für eine Impfpflicht des Gesundheitspersonals oder der betagten Bevölkerung bestünde allerdings schon heute die gesetzliche Grundlage.

Ausblick: Abwägung nach aktuellem Stand der Dinge

Der politische Appetit scheint äussert gering zu sein, die bestehende Grundlage für ein (begrenztes) Impfobligatorium anzuwenden oder eine neue Grundlage für ein breiteres Obligatorium zu schaffen. Sollte die Diskussion aber nochmals aufkommen, müsste sie beim öffentlichen Interesse beginnen: Was genau soll mit dem Impfobligatorium erreicht werden? Nur wenn das Ziel möglichst klar umrissen ist, kann die Verhältnismässigkeit der Massnahme beurteilt werden.

Abgesehen davon sei in Erinnerung gerufen, dass zwischen Zwang, Pflicht und Druck rechtliche Welten bestehen. Ein Impfzwang ist nicht vorstellbar in unserer Rechtsordnung. Eine Impfpflicht ist ein bestehendes Instrument, das auch schon breiter angewendet wurde und heute noch unter gegebenen Umständen eingesetzt werden könnte. Und mit Anreizen und Verhaltensregeln einen Druck auf Ungeimpfte auszuüben, ist ein noch geringerer Eingriff, dessen Einsatz der Staat unabhängig von einer Impfpflicht abwägen sollte. Ein staatlicher Druckversuch, der von Betroffenen als «faktische Pflicht» aufgefasst werden könnte, ist eben keine rechtliche Pflicht. Das macht aus rechtstaatlicher Sicht einen grossen Unterschied.

 

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Bild: Marco Verch Professional Photographer, Flickr, Lizenz CC BY 2.0.

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