Eine Würdigung

Von Thomas Pfisterer

Wie diesem Zeitgenossen gerecht werden? Selbstverständlich verdient Dick Marty einen Ehrenplatz wegen seiner hartnäckigen Suche nach der Wahrheit sowie seines Kampfes um Recht und Gerechtigkeit. Es ist typisch für ihn, dass er als eines der ersten Mitglieder des Bundesparlaments die Idee und die Gründung von «Unser Recht» begrüsst sowie unterstützt hat. Darüber hinaus muss uns Dick Marty hauptsächlich wegen seiner politischen Leistung in Erinnerung bleiben. Er hat sie hauptsächlich als Mitglied des Europarats (1998 bis 2011) erbracht. Dick Marty hat wie wenige und in der Schweiz vielleicht als erster das politische Potenzial des Europarats erkannt und praktisch öffentlichkeitswirksam im Dienst seiner liberalen Überzeugung ausgeschöpft. Er tat dies mindestens in drei Richtungen: für «Europa» als Menschenrechtsgemeinschaft, durch den Europarat als «Parlament» sowie durch sein persönliches Engagement als Parlamentsmitglied. Im Jahr 2024 feiert der Europarat seinen 75jährigen Bestand. Dick Marty hätte mitfeiern müssen.

Dick Marty war ein spannender, zuweilen anspruchsvoller Weggefährte. Wir haben uns über Jahre angenähert und miteinander gearbeitet. Dick Marty ist dabei oft über uns Zeitgenossen hinausgewachsen. Begonnen haben wir beide in der Justiz, er als Staatsanwalt (1975 bis 1989) im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Bereits dort hat er sich international einen Namen erworben. Die Hand gereicht haben wir uns dann in der Zeit als Staats- bzw. Regierungsrat, er im Tessin (1989 – 1995) und der Schreibende im Aargau, bei der Mitarbeit in Regierungskonferenzen, etwa zur Rolle der Schweiz im EWR, zum Aufbau der Konferenz der Kantonsregierungen oder zum Beitrag der Kantone für die neue Bundesverfassung. Intensiv zusammengearbeitet haben wir in den Jahren im Ständerat (1995 – 2011), schon in der freisinnigen Fraktion, dann etwa in der Rechts- sowie der Finanzkommission. Dick Marty hat sich naturgemäss einerseits für die Menschen im Tessin eingesetzt, z.B. für den Gotthard-Tunnel, oder sich mit den Grenzgängern auseinandergesetzt, andererseits aus spürbarer innerer Berufung für Anliegen mit internationalem, menschenrechtlichem Bezug, teils parallel zur Arbeit im Europarat, so zum Umgang mit dem Terrorismus (bis zu den «schwarzen Listen» der UNO nach «9/11»), mit den Asylanten oder mit Potentatengeldern, dazu allgemein in der aussenpolitischen Kommission. Unvergessen ist, wie er die Verankerung von Mediation, Schlichtung sowie Einigung in der Rechtsordnung des Bundes unterstützte, die in unseren gemeinsamen Jahren weitgehend gelungen ist, vor allem in der Zivilprozessordnung.  Dick Marty hat seine künftige Tätigkeit im Europarat national vorgespurt und begleitet.

Dick Marty verstand «Europa» primär als «unser aller» gemeinsame Verpflichtung auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Die einzelnen Menschen sind ungeachtet der Grenzen der Mitgliedstaaten, ob gross oder klein, mächtig oder schwach, zu schützen, und nicht mehr der jeweiligen Politik unter den sowie in den Einzelstaaten zu überlassen. Die Menschenrechtsordnung muss international verankert sein.

Einem «Parlament» ähnlich hat der Europarat  eine übernationale parlamentarische «Beratende Versammlung»,  meist «Parlamentarische Versammlung» genannt, eingerichtet. Die Parlamentarische Versammlung ist das älteste  (übergeordnete) «Parlament in Europa». Das dadurch geschaffene internationale parlamentarische Potenzial mit nationaler, d.h. Öffentlichkeitswirkung in den Einzelstaaten, wusste Dick Marty geschickt zu nutzen. Die Parlamentarische Versammlung ist ein eigenartiges Zwischengebilde. Einerseits ist sie so selbständig wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Ohne Einfluss von Regierungen verteidigt und gestaltet sie die Menschenrechtspolitik, greift sie Missstände auf und gibt sie dem Ministerkomitee Empfehlungen. Andererseits schlägt die Parlamentarische Versammlung Brücken zu den Mitgliedstaaten. Deren Parlamente bestimmen aus dem Kreis ihrer nationalen Parlamentarier die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung und nehmen mit ihrer nationalen Öffentlichkeit Europarat-Impulse auf. Die Mitgliedstaaten legitimieren so die Parlamentarische Versammlung. Sie arbeitet ähnlich wie ein Parlament, und zwar eigenständig: Sie wählt ihre Themen aus, erstellt die Traktandenliste, untersucht und erarbeitet Berichte, beschliesst mit (2/3-)Mehrheit über Empfehlungen usw. Diese Eigenständigkeit, unabhängig von Regierungen oder Diplomaten und deren Einfluss auf parlamentarische Mehrheiten, ist vielerorts in Europa nicht geläufig. Sie kennzeichnet indessen die schweizerische Bundesversammlung und war Dick Marty von dort vertraut. Die Eigenständigkeit hilft dem Gewicht des Europarats. Beispielsweise mussten sich US-Behörden damit (anlässlich der CIA-Probleme) auseinandersetzen und knüpfte der Menschenrechtsgerichtshof mehrfach an Berichte der Parlamentarischen Versammlung an.

Dick Marty lebte vor, wie entscheidend im Parlament persönliches Engagement und hohe Qualität, dazu die Führung parlamentarischer Tätigkeiten sind, wie unabhängig, unerschrocken, schonungslos gearbeitet werden muss. Dick Marty hat dafür einen persönlichen Preis bezahlt; er musste lange Zeit unter Polizeischutz leben. Im Gedächtnis behalten wir den Einfluss von Dick Marty vor allem durch die Berichte, die er für die Kommission für Rechtsfragen und Menschenrechte erstellte, etwa zu den Geheimgefängnissen der CIA in Europa, zu illegalen Verschleppungen von Terrorverdächtigen, zu den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, zu den Vorwürfen von Kriegsverbrechen und anderen Greueltaten bis hin zum Organhandel führender UCK-Mitglieder, sogar Hashim Thaçi. Die Menschenrechte müssen in praktischen Fällen bis in Einzelheiten, durch die Tiefen und Dornen des Alltags hindurch verwirklicht werden; es genügt nicht, sie als hehre Prinzipien zu deklamieren. So hat Dick Marty den Bericht zu Tschetschenien derart eindrücklich belegt, dass die Parlamentarische Versammlung ihn einstimmig angenommen hat – seinerzeit in Anwesenheit der russischen Parlamentarierdelegation, deren Mitglieder teils zugestimmt, teils sich enthalten haben.

Ehre seinem Andenken!

 

Prof. Dr. iur. Thomas Pfisterer war Bundesrichter sowie Regierungs- und Ständerat des Kantons Aargau. Er ist Mitglied von UNSER RECHT.
Foto © Europarat

Print Friendly, PDF & Email