Ich mag mich nicht erinnern, dass vor einer Volksabstimmung (eidgenössische Abstimmung über die Selbstbestimmungs-Initiative) so viele Unwahrheiten verbreitet worden sind, wie dies gegenwärtig in Leserbriefen von Anhängern der Initiative (und auch in Artikeln von Chefredaktoren) der Fall ist. Wie Phönix aus der Asche stiegen selbsternannte Spezialisten des Verfassungsrechtes und des Völkerrechts, die sich wohl vorher nie damit befasst haben. Und sie stellen Behauptungen auf, die schlicht falsch sind.

Falsch ist, dass die Initiative nur einen Rechtszustand wiederherstellen will, wie er vor dem ominösen Bundesgerichtsentscheid von 2012 bestanden haben soll. Wer dies behauptet, kennt diesen Rechtszustand nicht – oder will ihn nicht kennen.

Falsch und frei erfunden ist, dass in Deutschland die Verfassung über dem Völkerrecht steht.

Falsch ist, dass neu die Bundesverfassung generell über dem Völkerrecht stehen soll (denn das Bundesgericht wäre bei Annahme der Initiative weiterhin an völkerrechtliche Verträge gebunden, wenn sie dem Referendum unterstanden haben).

Falsch und irreführend ist, dass die Demokratie geschützt werden soll. Schliesst der Bund Verträge mit dem Ausland (und darum geht es vor allem beim «Völkerrecht»), so soll darüber demokratisch, bei wichtigen Verträgen auch unter Mitwirkung des Volkes, entschieden werden, wie das bislang der Fall war. An einen rechtmässig geschlossenen Vertrag müssen sich aber beide Parteien halten. Das hat mit Rechtssicherheit und Glaubwürdigkeit der Schweiz viel, mit Demokratie nichts zu tun.

Falsch, ja doppelbödig ist die Behauptung, dass wir die Europäische Menschenrechtskonvention gar nicht brauchen, weil dieselben Freiheitsrechte auch in unserer Bundesverfassung stehen. Denn dieselben Kreise, die so etwas behaupten, haben bislang verhindert, dass wir Bürger und Bürgerinnen uns bei einem Eingriff des Bundesgesetzgebers in unsere Freiheit beim Bundesgericht wehren können.

Und falsch ist auch, dass unsere Unabhängigkeit in Gefahr sei. Wir nehmen unsere Souveränität wahr, wenn wir frei – demokratisch! – darüber entscheiden, ob wir uns mit ausländischen Partnern vertraglich binden wollen. Dass wir uns aber an den einmal abgeschlossenen Vertrag halten, hat mit Verlust der Unabhängigkeit nichts zu tun. Welcher vernünftige Mensch würde mit einem anderen einen Vertrag eingehen, der ungeniert erklärt, er halte sich später vielleicht nicht an diesen Vertrag, wenn er nicht mehr will? Genau diese Möglichkeit will die Initiative in die Verfassung schreiben!

Darum geht es, nicht um das abstrakte und rechtlich hochkomplexe Verhältnis von Völkerrecht und Verfassungsrecht. Deshalb ein überzeugtes Nein zu diesem institutionalisierten Vertragsbruch.

René Rhinow ist emeritierter Professor für öffentliches Recht der Universität Basel und war 1987-1999 Ständerat (FDP, Basel-Landschaft), 1998/99 Ständeratspräsident . Dieser Artikel, den wir mit seiner freundlichen Genehmigung weiterverbreiten, erschien am 6.11.18 in der “Basler Zeitung”.

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