Umdeutungs- und Relativierungsversuche
Von Christoph Spenlé und Carl Jauslin
Mehr als 75 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und mehr als 30 Jahre nach der Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte von 1993 stehen die Menschenrechte weltweit unter Druck. Die Menschenrechte werden nicht nur durch eine Realität herausgefordert, in der Menschenrechte einen schweren Stand haben. Die Menschenrechte werden vielmehr zunehmend auch als Ideal in Frage gestellt.
Umdeutungen und Relativierungen der Menschenrechte
Die Idee, dass Menschenrechte allen Menschen überall auf der Welt in gleicher Weise zustehen, wird heute zwar kaum mehr bestritten. Gleichzeitig lassen sich aktuell aber sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene zunehmend Narrative identifizieren, die das Konzept der Menschenrechte umdeuten oder relativeren wollen. So etwa mit der Begründung, die Menschenrechte seien eine westliche Vorstellung bzw. Teil einer neokolonialen Haltung, die anderen Kulturkreisen aufgedrängt wird (Relativismus) oder mit der Geltendmachung besonderer Umstände politischer oder ökonomischer Natur (Exzeptionalismus).
Die Diskussion über die Universalität der Menschenrechte hat sich über eine binäre Debatte zwischen «Kulturrelativisten» und «Menschenrechtsuniversalisten» hinausbewegt. Es ist inzwischen weithin anerkannt, dass die internationalen Menschenrechtsnormen in spezifischen lokalen, nationalen und regionalen Kontexten ausgelegt und angewandt werden müssen. Trotzdem wird der internationale Menschenrechtsschutz wieder vermehrt als Einmischung in die inneren Angelegenheiten verstanden, die den politischen Entscheidungsspielraum schmälert.
Auf internationaler Ebene versuchen Staaten wie beispielsweise China oder Organisationen wie die Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIC) die Entwicklung der internationalen Menschenrechte aktiv zu beeinflussen und alternative Menschenrechtsnarrative zu verbreiten. Auf nationaler Ebene fordern populistische Exponenten im Namen des «wahren Volkes» die Einschränkung von Minderheitenrechten und stellen die Menschenrechte als «Rechte der Anderen» dar.
Angriffe auf das Fundament der Menschenrechte
Die Angriffe auf die Menschenrechte beschränken sich nicht auf kulturelle Relativierungen oder Umdeutungen, sondern setzen beim Fundament an. Die Globalisierung führt in vielen Demokratien zu einer Identitätskrise und einem Gefühl des Kontrollverlustes. Die kosmopolitische Idee einer globalen Zivilgesellschaft hat für viele keine Anziehungskraft, sondern ist Quelle einer zunehmenden Entfremdung. Politische Kräfte fordern vor diesem Hintergrund eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat, der selbstbestimmt entscheiden soll. Im Namen des «wahren Volkes» werden zunehmend die Rechte von Minderheiten eingeschränkt. Diese Vorstellung des wahren Volkes fingiert eine homogene Einheit und verkennt die heterogene Vielfalt in einer pluralistischen Gesellschaft. Der internationale Menschenrechtsschutz wird dabei gegen die nationale Selbstbestimmung ausgespielt. Menschenrechte und Demokratie bedingen sich jedoch wechselseitig genauso, wie die individuelle Selbstbestimmung der kollektiven Selbstbestimmung bedarf, und umgekehrt.
Menschenrechtspolitik wird aus geopolitischer Sicht zudem als naive Schönwetterpolitik abgewertet. Harte Interessen und nicht weiche Werte sollen bei der aussenpolitischen Positionierung eines Landes im Zentrum stehen. Die dahinter liegende Grundüberzeugung ist, dass bei der Lösung von internationalen Konflikten die Staaten aus Eigeninteresse und nicht aufgrund übergeordneter Ideale handeln. Dies zeigt sich in zugespitzter Form in Krisen, in denen ein entschlossenes und schnelles Handeln des Staates entscheidend ist, um das Gemeinwohl zu schützen. Menschenrechte werden in diesen Situationen der scheinbaren Alternativlosigkeit staatlichen Handelns oft als Hindernisse wahrgenommen. Das Krisennarrativ wird dabei regelmässig genutzt, um schwerwiegende oder länger andauernde Beschränkungen der individuellen Rechte zu rechtfertigen, oder gar eine zeitweise Suspendierung der Menschenrechte zu begründen.
Menschenrechtsnarrative und der Kampf um die Deutungshoheit
Die Idee, dass Menschenrechte universell gelten, sieht sich in der Realität mit einer Vielzahl von konkurrierenden Verständnissen konfrontiert. Diese Menschenrechtserzählungen basieren auf unterschiedlichen philosophischen Verständnissen, verschiedenen politischen Interpretationen und rechtlichen Auslegungen. Es werden verschiedene Menschenrechtsverständnisse vertreten, die beispielsweise als minimalistisch oder extensiv, liberal oder sozial, individualistisch oder kollektivistisch, regierungsfreundlich oder zivilgesellschaftlich, rechtspositivistisch oder naturrechtlich bezeichnet werden können. Und so stellt sich die Frage nach der Deutungshoheit: Wer definiert eigentlich, was Menschenrechte sind, und was vom Menschenrechtsschutz erfasst ist?
Obwohl der Menschenrechtsgedanke nur universal denkbar ist, zeigt sich, dass er in seiner schriftlichen Ausformung stets geschichtlich bedingt und damit zwangsläufig wandelbar ist. Menschenrechte sind historisch gewachsen, politisch entwickelt, rechtlich gesetzt und moralisch begründbar. Die überdauernde Grundidee liegt dabei in der Erkenntnis, dass allen Menschen – unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe – allein aufgrund ihres Menschseins gewisse Rechte zustehen. In einer kontingenten und sich wandelnden Welt müssen wir verstehen, dass die Menschenrechte, einmal etabliert, nicht zwingend für immer gesichert sind, sondern vielmehr der wiederkehrenden Begründungs- und Überzeugungsarbeit bedürfen, damit sie nicht zu einer Idee der Vergangenheit verkommen, und auch in Zukunft als Leitidee und Legitimationsbasis staatlichen Handelns anerkannt sind.
Dr. iur. Christoph A. Spenlé, Advokat, LL.M., ist Stv. Sektionschef der Sektion Menschenrechte in der Direktion für Völkerecht im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Carl Jauslin, MLaw, BA ist Jurist beim Bundesamt für Justiz (BJ) und Doktorand an der Juristischen Fakultät der Universität Basel.
Der vorliegende Beitrag basiert auf dem Buch der beiden Autoren, welches unter dem Titel «Repetitorium Internationaler Menschenrechtsschutz» 2024 bei Orell Füssli erschienen ist. Er reflektiert die persönliche Auffassung der Autoren und bindet ihre Arbeitgeber in keiner Weise.