Von Dr. iur. Alois Riklin

Zur Klärung der zurzeit in der Schweiz laufenden, verwirrenden und polarisierenden Neutralitätsdiskussion soll diese «Checkliste» das minimale Grundwissen zur schweizerischen Neutralität möglichst verständlich und präzis zusammenstellen.

In der Umgangssprache bedeutet «neutral» unparteiisch, unbefangen, unvoreingenommen. Doch in der internationalen Politik versteht man unter «Neutralität» die Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg anderer Staaten. Was Nichtbeteiligung gemäss Völkerrecht konkret beinhaltet, unterliegt dem Wandel der Zeiten. Seit 1907 sind die Rechte und Pflichten neutraler Staaten im V. und XIII. Haager Abkommen teilweise kodifiziert. Zusammen mit anderen völkerrechtlichen Verträgen (z.B. Genfer Konventionen zum Schutze der Kriegsopfer von 1949 und 1977) und dem Völkergewohnheitsrecht (z.B. Luftkrieg) gelten für Neutrale und Kriegführende die folgenden Regeln.

Neutralitätsrecht

Dem neutralen Staat ist es verboten, den Kriegführenden eigene Truppen und Operationsbasen zur Verfügung zu stellen, den Durchmarsch und den Überflug zu gestatten, die Anwerbung von Kombattanten auf seinem Gebiet zuzulassen, aus staatseigenen Beständen Kriegsmaterial zu liefern, Staatskredite für Kriegszwecke zu gewähren und die Übermittlung militärischer Nachrichten an Kriegführende von seinem Territorium aus zu dulden. Neutralitätswidrige Handlungen darf der neutrale Staat in seinem Gebiet nicht dulden; er muss sie «bestrafen».

Der neutrale Staat hat das Recht, Flüchtlingen Asyl zu gewähren und Kombattante Kriegführender zu internieren. Er ist berechtigt, den wirtschaftlichen Verkehr mit den kriegführenden Staaten weiterzuführen, aber mit einer Ausnahme: Wenn er die Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial einschränkt oder verbietet, muss er die Kriegführenden gleichbehandeln. Neutrale Staaten und ihre Bürger behalten das Recht, zu internationalen Konflikten Stellung zu nehmen, auch zu Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen (keine Gesinnungsneutralität). Das Neutralitätsrecht verbietet dem neutralen Staat nicht, selbst Wirtschaftssanktionen zu verhängen oder an Wirtschaftssanktionen teilzunehmen, besonders gegen Staaten, die das Aggressionsverbot der UN-Charta brechen. Wird ein neutraler Staat militärisch angegriffen, hat er das Recht, sich zu verteidigen und mit anderen Staaten zu verbünden.

Die kriegführenden Staaten sind verpflichtet, die Neutralität zu respektieren und dementsprechend jede Verletzung des neutralen Territoriums und Luftraums zu unterlassen. «Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich.» (Art. 1 des V. Haager Abkommens)

Ein dauernd Neutraler muss bereits im Frieden eine Aussen- und Sicherheitspolitik führen, die ihm im Kriegsfall die Einhaltung der Neutralitätspflichten ermöglicht. Als Vorwirkungen der dauernden Neutralität im Frieden gelten das Bündnisverbot, das Stationierungsverbot für fremde Streitkräfte und das Rüstungsgebot.

Auf eine einfache Kurzformel gebracht:

«Wir verpflichten uns, kein militärisches Bündnis einzugehen, keinen Krieg zu beginnen und an keinem Krieg teilzunehmen, solange wir nicht selbst militärisch angegriffen werden. Wenn man aber gegen uns Krieg führt, werden wir uns verteidigen und gegebenenfalls mit anderen Staaten verbünden.»

Neutralitätspolitik

Vom Neutralitätsrecht ist die Neutralitätspolitik zu unterscheiden. Sie umfasst alle Massnahmen, die ein neutraler Staat im Krieg und ein dauernd neutraler Staat bereits im Frieden über seine neutralitätsrechtlichen Verpflichtungen hinaus nach eigenem, freiem Ermessen trifft, um die Wirksamkeit, Nachhaltigkeit, Berechenbarkeit und Glaubwürdigkeit seiner Neutralität zu sichern.

Neutralität und Solidarität

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Neutralität im Allgemeinen und die schweizerische Neutralität im Besonderen international diskreditiert. Mit der Devise «Neutralität und Solidarität» gab Bundesrat Max Petitpierre als Aussenminister Gegensteuer. Dementsprechend beteiligte sich die Schweiz am Marshallplan zum Wiederaufbau und zur Neuordnung Europas. Die Devise wurde zu einem geflügelten Wort der Schweizer Aussenpolitik.

Internationale Solidarität hat eine doppelte Dimension. Einerseits verspricht die Schweiz, das neutralitätsbedingte Abseitsstehen durch solidarische Dienstleistungen auszugleichen. Anderseits kündigt sie an, Tatbeweise internationaler Solidarität auch jenseits der Neutralität erbringen zu wollen. Dazu gehören beispielsweise die internationale Entwicklungszusammenarbeit und die internationale Katastrophenhilfe. Die Solidarität ist keine Eigenschaft der Neutralität, sondern eine Ergänzung. Selbstlob ist zu vermeiden. Im Sinne von Carl Spitteler in seiner Rede «Unser Schweizer Standpunkt» zu Beginn des Ersten Weltkriegs: «Die patriotischen Phantasien von einer vorbildlichen Mission der Schweiz bitte möglichst leise.»

Besonderheiten der schweizerischen Neutralität

Sieben Besonderheiten kennzeichnen die schweizerische Neutralität:

1. Immerwährende oder dauernde Neutralität, im Gegensatz zur gewöhnlichen oder gelegentlichen (z.B. Irland): Erstmals findet sich der Begriff «neutralité perpétuelle» in der Neutralitätsakte der Pariser Konferenz von 1815. Seither hat die Schweiz ununterbrochen daran festgehalten.

2. Völkerrechtlich anerkannte Neutralität, im Gegensatz zur faktischen (z.B. Schweden): Durch die Pariser Neutralitätsakte von 1815, den Versailler Friedensvertrag von 1919 (Art. 435), die Londoner Erklärung des Völkerbundrats von 1920 und 2002 durch die Aufnahme der Schweiz in die Vereinten Nationen unter Neutralitätsvorbehalt wurde die Neutralität völkerrechtlich anerkannt.

3. Selbstbestimmte Neutralität, im Gegensatz zur fremdbestimmten Neutralisierung (z.B. Belgien 1831): Die Neutralitätsakte von 1815 war kein Diktat der Grossmächte.

4. Bewaffnete Neutralität, im Gegensatz zur unbewaffneten (z.B. Costa Rica): Das V. Haager Abkommen von 1907 bestätigt das Recht zur militärischen Verteidigung (Art. 10).

5. Bündnisfreie Neutralität: Im früheren Neutralitätsverständnis waren Defensivallianzen zulässig. Seit der Bundesverfassung von 1848 sind den Kantonen Sonderbündnisse untersagt, und die Schweiz ist seit 1815 nie einem militärischen Bündnis beigetreten.

6. Differentielle Neutralität: Mit dem Beitritt zum Völkerbund 1920 und zu den Vereinten Nationen 2002 hat sich die Schweiz zur Teilnahme an Wirtschaftssanktionen der Staatengemeinschaft verpflichtet.

7. Integrale Neutralität: Vor dem Beitritt zum Völkerbund und von 1938–2002 war die schweizerische Neutralität «integral», d.h. die Schweiz war nicht verpflichtet, an internationalen Wirtschaftssanktionen teilzunehmen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Bundesräte neue Adjektive zur besonderen Neutralität der Schweiz erfunden:

– Aktive Neutralität: Bundesrat Petitpierre und Bundesrätin Calmy-Rey stülpten die neue Bezeichnung als Oberbegriff über die schweizerische Aussenpolitik insgesamt.

– Umfassende Neutralität: Bundesrat Blocher plädierte als Gegenposition zur «aktiven Neutralität» seiner Bundesratskollegin für eine «umfassende Neutralität»; jetzt plant der ehemalige Bundesrat unter diesem Titel eine Volksinitiative. Wenn damit die Rückkehr zur «integralen Neutralität» gemeint ist, müsste die Schweiz aus den Vereinten Nationen austreten.

– Kooperative Neutralität: Dieser Vorschlag von Bundesrat Cassis bleibt vorerst mangels inhaltlicher Ausdeutung eine Leerformel. Die Ukraine-Konferenz in Lugano 2022 ist nicht «ein erster Gehversuch in kooperativer Neutralität», sondern eine Fortschreibung «guter Dienste».

Die drei neuen Worthülsen bringen keinen Mehrwert. Die sieben traditionellen Kennzeichen der schweizerischen Neutralität genügen vollauf.

Neutralität in der Bundesverfasssung

Die Neutralität ist keine Norm der geschriebenen Verfassung. 1848 verzichtete die Tagsatzung bewusst darauf, die Neutralität in den Zweckartikel der ersten Bundesverfassung aufzunehmen. Sie begründete den Verzicht damit, die Neutralität sei ein «Mittel zum Zweck», eine zurzeit «angemessen erscheinende Massregel, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu sichern»; unter Umständen müsse die Neutralität dereinst «im Interesse der eigenen Selbständigkeit verlassen werden». Dementsprechend wurde die Neutralität nur unter den Kompetenzen der Bundesversammlung ausdrücklich genannt.

Das ist so bis heute. Auch in der Bundesverfassung von 1999 ist die Neutralität weder in der Präambel noch im Zweckartikel (Art. 2) noch unter den Zielen der Aussenpolitik (Art. 54) und der Sicherheitspolitik (Art. 57) erwähnt. Die Neutralität kommt erst im Abschnitt über die Zuständigkeiten der Bundesorgane vor: Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz fallen in die Kompetenz der Bundesversammlung (Art. 173) und des Bundesrates (Art. 185).

Der Verfassungstext enthält keine Verpflichtung zur Beibehaltung der Neutralität. Doch infolge der langdauernden Übung ist anzunehmen, dass die Neutralität gewohnheitsrechtlich zu materiellem Verfassungsrecht geworden ist, sodass der Neutralitätsverzicht wohl eine Volksabstimmung erfordern würde. Sicher würde der Neutralitätsverzicht durch den Beitritt zur NATO, also einem militärischen Bündnis mit Beistandspflicht, ein obligatorisches Referendum voraussetzen (Art. 140).

Neutralität und «Gute Dienste»

Unter «Guten Diensten» versteht man Verfahren, bei denen sich ein unbeteiligter Dritter im Fall politischer Konflikte bemüht, mindestens den Kontakt zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen oder darüber hinaus zur Mässigung bzw. Lösung eines Konflikts beizutragen.  Beispiele solcher Dienstleistungen sind: Angebot der Infrastruktur als Gastland internationaler Organisationen und Konferenzen, Vertretung der Interessen zwischen Staaten ohne diplomatische Beziehungen, Vermittlung, Mitwirkung in Untersuchungs- und Überwachungskommissionen, Förderung der Schiedsgerichtsbarkeit, Mitwirkung in Schiedsverfahren, Zurverfügungstellen von Persönlichkeiten für Sonderaufgaben usw.

Den grössten «guten Dienst» leistete die Schweiz bei der Gründung und Entwicklung des weltumspannenden Roten Kreuzes und Roten Halbmonds ab 1863 sowie als Initiant und Sachwalter der Genfer Konventionen von 1864, 1929, 1949 und 1977. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) ist ein aus Schweizer Persönlichkeiten zusammengesetztes, unabhängiges und zur Unparteilichkeit verpflichtetes Gremium, das von der Genfer Zentrale aus die Gesamtorganisation leitet und mit Hilfe von international rekrutierten Delegierten vor Ort in den Konfliktgebieten die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts gemäss den Genfer Konventionen unterstützt. Die dauernde Neutralität der Schweiz begünstigt die Unparteilichkeit des IKRK.

Eine Besonderheit unter den «Guten Diensten» ist das Institut der Schutzmacht aufgrund der Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961 und über konsularische Beziehungen von 1963.

Diese Aufgabe beschränkt sich in der Regel auf administrative Dienstleistungen und die Briefträgerfunktion, kann aber auch vermittelnd wirken. Die Schweiz hat seit dem Französisch-deutschen Krieg von 1870/71 besonders oft Schutzmachtmandate übernommen, in jüngster Zeit drei besonders wichtige zwischen USA/Iran, USA/Kuba und Russland/Georgien.

«Gute Dienste» sind kein Alleinstellungsmerkmal neutraler Staaten. Aber der dauernd Neutrale ist dafür besonders prädestiniert.

Neutralität und Kriegsmaterialexporte

Die völkerrechtliche Rechtsgrundlage findet sich im V. Haager Abkommen von 1907. Dieses verlangt vom neutralen Staat die Gleichbehandlung der Kriegführenden, falls er die Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial beschränkt oder verbietet (Art. 9).

Die wichtigste landesrechtliche Rechtsgrundlage ist das Kriegsmaterialgesetz (Stand 01.05.2022). Demzufolge bedürfen die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial einer Bewilligung des Bundes; der Bundesrat regelt die Bewilligungspflicht (Art. 17). In der Regel kann eine Ausfuhrbewilligung nur erteilt werden, wenn eine Erklärung der Regierung des Empfängerlandes vorliegt, dass das Material nicht wieder ausgeführt wird (Art. 18). Die Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial dürfen nicht bewilligt werden, wenn

– das Bestimmungsland in einen internen oder internationalen Konflikt verwickelt ist,
– das Bestimmungsland Menschenrechte schwerwiegend und systematisch verletzt,
– im Bestimmungsland ein hohes Risiko besteht, dass das auszuführende Kriegsmaterial gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wird,
– im Bestimmungsland ein hohes Risiko besteht, dass das auszuführende Kriegsmaterial an einen unerwünschten Endempfänger weitergegeben wird. (Art. 22a).

Ergänzt wird das Kriegsmaterialgesetz durch das Güterkontrollgesetz (Stand 01.01.2022). Es regelt die Ausfuhr von zivil und militärisch verwendbaren Gütern (Pilatus-Porter!).

Die von Parlamentariern diskutierte Änderung des schweizerischen Kriegsmaterialgesetzes bezüglich der Wiederausfuhr unterliegt dem völkerrechtlichen Gleichbehandlungsgebot. Das multilaterale Haager Abkommen kann nicht unilateral von der Schweiz ausgehebelt werden. Das Völkerrecht hat Vorrang.

Die für die Schweiz hochnotpeinliche Auseinandersetzung um direkte und indirekte Kriegsmaterialausfuhr zugunsten der völkerrechtswidrig von Russland angegriffenen Ukraine kann nur vermieden werden, indem die neutrale Schweiz auf jegliche Kriegsmaterialausfuhr verzichtet. 1972 haben Volk und Stände beinahe einem totalen Verbot der Waffenausfuhr zugestimmt (49,7%). Darauf erliess der Bund ein strenges Waffenausfuhrgesetz, das dann allerdings wieder gelockert wurde. Die Kriegsmaterialausfuhr ist die Achillesferse der Neutralität.

So oder so sollte die Schweiz die neutralitätsbedingte Solidaritätsverweigerung durch umso grosszügigere humanitäre Leistungen zugunsten des zu Unrecht auf brutalste Weise angegriffenen Landes ausgleichen. In dieser Hinsicht rangiert sie, abgesehen von der Aufnahme von Flüchtlingen und der Ukraine-Konferenz in Lugano, in den hinteren Rängen.

Neutralität und Wirtschaftssanktionen

Gemäss dem schweizerischen Embargogesetz (Stand 01.01.2022) kann sich die Schweiz an Zwangsmassnahmen der Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder der «wichtigsten Handelspartner» der Schweiz beteiligen, sofern sie der Einhaltung des Völkerrechts und namentlich der Respektierung der Menschenrechte dienen.

Wenn der Sicherheitsrat gemäss der UN-Charta wirtschaftliche und andere friedliche Sanktionen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens beschliesst, müssen alle UN-Mitglieder, muss also auch die neutrale Schweiz, diese Massnahmen durchführen (Art. 25 und 41). Die Teilnahme an militärischen Sanktionen setzt hingegen ein Sonderabkommen mit den betreffenden Staaten voraus (Art. 43). Im Fall der Ausübung des Vetorechts durch ein ständiges Sicherheitsratsmitglied kann die UNO weder wirtschaftliche noch militärische Sanktionen gegen einen Aggressor beschliessen. So auch geschehen im Fall des Ukraine-Krieges.

Die OSZE hat im Ukrainekrieg keine Sanktionen verfügt, wohl aber die Europäische Union als wichtigster Handelspartner der Schweiz. Nachdem die Schweiz zunächst nur die Umgehung der EU-Sanktionen verhindern wollte («Courant normal»), schloss sie sich dann doch nach heftigen internationalen Protesten den Zwangsmassnahmen vollständig an. Weder das Embargogesetz noch das Neutralitätsrecht verbietet dieses Verhalten. Angesichts der geopolitisch veränderten Situation, in der eine autoritäre europäische Grossmacht gegen ein kleineres europäisches und demokratisches Land in krasser Verletzung sowohl der Regeln der OSZE als auch der UNO einen äusserst brutalen Krieg führt, ja sogar die staatliche Existenz des angegriffenen Landes bestreitet, ist die Teilnahme der Schweiz, obwohl nicht EU-Mitglied, an den Sanktionen der Europäischen Union völker- und neutralitätsrechtlich legitim. Allerdings wird dadurch das Potential der neutralen Schweiz für «gute Dienste» beeinträchtigt. Russland betrachtet die Schweiz bereits nicht mehr als neutrales Land.

Funktionen der schweizerischen Neutralität

Von den verantwortlichen Amtsträgern wurde die schweizerische Neutralität überwiegend nicht als Verfassungszweck oder Verfassungsziel aufgefasst, sondern als Mittel zur Verwirklichung bestimmter Ziele. Als übergeordnete Zielsetzung lässt sich aus der schweizerischen Neutralitätsgeschichte die Wahrung und Förderung des inneren und äusseren Friedens in relativer Unabhängigkeit sowie des Gemeinwohls ableiten. Im Rahmen dieser Zielsetzung können sechs Neutralitätsfunktionen identifiziert werden:

1. Die Integrationsfunktion diente dem inneren Frieden und dem inneren Zusammenhalt der konfessionell und kulturell heterogenen Eidgenossenschaft.

2. Die Friedensfunktion: Die Selbstverpflichtung des dauernd neutralen Staates, weder einen Krieg zu beginnen noch an einem Krieg teilzunehmen, war historisch ein friedenspolitischer Sonderfall.

3. Die Unabhängigkeits- und Schutzfunktion gewährleistete den äusseren Frieden, indem Kriege vom eigenen Land ferngehalten und hegemoniale Bestrebungen der Grossmächte mehr oder weniger abgewendet werden konnten.

4. Die Freihandelsfunktion ermöglichte die Weiterführung des Wirtschaftsverkehrs auch mit den Kriegführenden und sicherte so das wirtschaftliche Überleben des rohstoffarmen, auf Aussenhandel angewiesenen Kleinstaates.

5. Die Gleichgewichtsfunktion entsprach über lange Zeit den geostrategischen Interessen Europas.

6. Die Dienstleistungsfunktion trug dazu bei, das neutralitätsbedingte Abseitsstehen durch Tatbeweise internationaler Solidarität möglichst auszugleichen.

Periodisierung der schweizerischen Neutralität

Allmähliche Gestaltnahme (15. Jahrhundert bis 1798)

Die schweizerische Neutralität entstand nicht schlagartig aufgrund eines einmaligen Willensaktes, sondern erwachte «allmählich aus dem Dämmer völkerrechtlicher Verflechtungen zu klarem Bewusstsein» (Edgar Bonjour). Dabei waren innen- und aussenpolitische Gründe im Spiel. Innenpolitisch wurden neue Bundesmitglieder ab dem 15. Jahrhundert im Fall von Konflikten zwischen den Orten zum «Stillesitzen» und zur Vermittlung verpflichtet. Aussenpolitisch bewirkte der Schock der Niederlage von Marignano (1515) den Zusammenbruch der eidgenössischen Machtpolitik. Die erste offizielle Neutralitätserklärung der Tagsatzung stammt aus dem Jahr 1674.

Die alteidgenössische Neutralität wich freilich von der späteren Neutralitätsauffassung ab. Erstens war der Neutrale gemäss dem völkerrechtlichen Standardwerk von Hugo Grotius (1625) verpflichtet, Kriegführenden den militärischen Durchmarsch zu gewähren. Zweitens galt der Abschluss von Defensivbündnissen als zulässig. Drittens durfte die Schweiz kriegführenden Mächten die Anwerbung von Schweizer Söldnern gestatten. Viertens vertrat Grotius bezüglich des Handelsverkehrs die Auffassung, der Neutrale dürfe nichts tun, was den Verfechter der ungerechten Sache stärke bzw. den Verteidiger der gerechten Sache schwäche, und im Zweifelsfall müsse er beide Parteien gleichbehandeln. Erst der Neuenburger Völkerrechtler Emer de Vattel attestierte den Neutralen 1758 die Freiheit des Handels mit den Kriegführenden.

Verfestigung (1815-1914)

Der Einmarsch der Franzosen und die innere Revolution führten 1798 zum Einsturz der Alten Eidgenossenschaft. Die Schweiz wurde zum Kriegsschauplatz, besetzten Land und Durchmarschgebiet. Weder Frankreich noch die Alliierten respektierten die Neutralität.

Wie durch ein Wunder ging die schweizerische Neutralität aus dieser tiefsten Krise gestärkt hervor. Nachdem der Wiener Kongress 1815 die politische Landkarte Europas neu festgelegt hatte, darunter auch die Aussengrenzen der Eidgenossenschaft, erliessen die fünf Grossmächte Österreich, Frankreich, Grossbritannien, Preussen und Russland anlässlich der Pariser Friedenskonferenz am 20.November 1815 den «Acte portant reconnaissance et garantie de la neutralité perpétuelle de la Suisse et de l’inviolabilité de son territoire». Es war ein Glücksfall, dass der Genfer Diplomat Pictet de Rochemont im Auftrag der Tagsatzung diese Erklärung massgeblich mitformuliert hat.  Entscheidend für diesen Erfolg war die geostrategische Gleichgewichtsfunktion der Neutralität. Als «Hüterin der Alpenpässe» kontrollierte die Schweiz strategisch wichtige Nord-Süd-Verbindungen. Deshalb erklärten die Grossmächte, die neutrale Unabhängigkeit der Schweiz liege «dans les vrais intérêts de la politique de l’Europe entiêre».

Im Französisch-deutschen Krieg 1870/71 internierte die Schweiz die geschlagene, durch Hunger und Kälte gezeichnete französischen Bourbaki-Armee. 87’000 Offiziere und Soldaten wurden in 190 Ortschaften untergebracht, verpflegt, medizinisch betreut und bewacht. Diese Hilfeleistung prägte einen Aspekt des späteren Neutralitätsrechts.

Dem aussenpolitischen Glücksfall von 1815 folgte der innenpolitische von 1848, als der Schweiz nach der Krise des Sonderbundskrieges die Gründung des Bundesstaates gelang. Die Periode der Verfestigung endete 1907 mit der Kodifizierung des bisher vor allem auf dem Völkergewohnheitsrecht beruhenden Neutralitätsrecht in den Haager Abkommen.

Bewährung mit Vorbehalten (1914-1945)

Einmal mehr war die Neutralität im Ersten Weltkrieg für den inneren Zusammenhalt der Schweiz wichtig; denn mindestens in der Anfangsphase galten die Sympathien vieler Deutschschweizer Deutschland, jene der Westschweizer mehrheitlich Frankreich. Unter Verletzung des eben erst in den Haager Abkommen bestätigten Freihandelsrechts neutraler Staaten wurde die Schweiz in den Wirtschaftskrieg einbezogen; sie musste sogar ausländische Kontrolleure im eigenen Land dulden. Umgekehrt war der einseitige Nachrichtenaustausch der Armee mit Deutschland eine klare Verletzung des Neutralitätsrechts (Obersten-Affäre). Neutralitätspolitisch ungeschickt war der Versuch von Bundesrat Arthur Hoffmann, einen deutsch-russischen Separatfrieden zu vermitteln; er musste deshalb nach Bekanntwerden zurücktreten. Dagegen wurden die «Guten Dienste» bezüglich der Vertretung diplomatischer Interessen (25 Mandate) und die Internierung fremder Truppen (68’000) allseits geschätzt.

Die Gründung des Völkerbundes läutete eine besonders aktive Periode der schweizerischen Aussenpolitik ein. Im Versailler Friedensvertrag wurden die Garantien der Neutralitätsakte von 1815 als «internationale Abmachung zum Zwecke der Aufrechterhaltung des Friedens» anerkannt. Die Schweiz wurde zur Teilnahme an wirtschaftlichen, nicht aber an militärischen Sanktionen verpflichtet («differentielle Neutralität»). Nach hartem Abstimmungskampf stimmten Volk und Stände dem Beitritt zum Völkerbund zu (56%). Gegen Konkurrenz wurde Genf als Sitz des Völkerbundes auserkoren. Wichtige Konferenzen fanden in der Zwischenkriegszeit in der Schweiz statt. Kein anderes Land engagierte sich so stark für Schieds- und Schiedsgerichtsverfahren. Infolge der Austritte Japans, Deutschlands und Italiens aus dem Völkerbund und der Sanktionen im Abessinien-Konflikt kehrte die Schweiz mit Billigung des Völkerbundrates 1938 zur «integralen Neutralität» zurück.

Im Zweiten Weltkrieg war die Schweiz existenziell bedroht. Mit einem militärischen Angriff Deutschlands musste gerechnet werden. Die Neutralität bestand die Prüfung, obwohl das Neutralitätsrecht von beiden Kriegsparteien und marginal auch von der Schweiz nicht immer beachtet wurde. Die Schweiz internierte 100’000 Kombattante und betreute Schutzmandate für 35 Länder. Das IKRK beschäftigte 4000 Personen zur   Betreuung von Kriegsgefangenen und zur Suche nach Vermissten.

Dank der ungeplant geglückten Mischung von Widerstand, Anpassung und internationalen Dienstleistungen, vor allem aber dank dem Sieg der Alliierten, blieb die Schweiz vom Krieg verschont.

Übertreibung (1945-1989)

Während dem «Kalten Krieg» massen Bundesrat, Parlament und die tonangebenden Kreise der Wirtschaft fast jedes aussenpolitische Problem an einem übertriebenen Neutralitätsverständnis. Von der Gründung an dabei war die Schweiz nur in der OEEC (später OECD), der EFTA und der KSZE. Dem Europarat und der EMRK trat die Schweiz erst 14 Jahre bzw. 24 Jahre nach deren Gründung bei, und 41 Jahre nach Gründung lehnten Volk und Stände den UN-Beitritt (75%) ab. Das erinnert an das Wort von Bundesrat Ritschard: «Die Schweizer stehen früh auf und erwachen spät.» Noch 1981 erklärte der Bundesrat die Neutralität als wichtigstes Mittel der schweizerischen Aussenpolitik und die Unabhängigkeit als wichtigstes Ziel.

Dennoch konnte die Schweiz dem Image als «Neutrale des Westens» nicht entgehen. Ideologisch stand sie verständlicherweise auf der Seite der westlichen Demokratien, und wirtschaftlich war sie zwingend in die Nachbarstaaten und die marktorientierten Länder eingebunden. Im lange geheim gebliebenen Hotz-Linder-Abkommen (1951) beugte sie sich amerikanischem Druck und beteiligte sich an den Embargo-Massnahmen gegenüber den kommunistischen Staaten. In der Korea-Mission zur Überwachung des Waffenstillstandes (seit 1953) akzeptierten Schweden und die Schweiz die Rolle als «westliche Neutrale» neben den «östlichen Neutralen» Polen und CSSR, und in der Kommission zur Repatriierung der Kriegsgefangenen (1953–54) dienten die vier «Neutralen» unter dem Vorsitz des «Super-Neutralen» Indien.

Immerhin bemühte sich die Schweiz, dem zweiten Teil der Devise «Neutralität und Solidarität» Substanz zu geben. Sie beherbergt bis heute den europäischen Hauptsitz und zahlreiche Spezialorganisationen der Vereinten Nationen. Fast täglich finden in Genf internationale Konferenzen statt, darunter auch wichtige Gipfeltreffen. 1989 beschäftigte das IKRK 800 Delegierte und 4500 lokale Angestellte.

Klärung und Polarisierung (seit 1989)

Die Implosion des sowjetkommunistischen Imperiums veränderte die geopolitische Lage Europas fundamental. In mehreren Berichten zur Aussenpolitik, Sicherheitspolitik und Neutralität positionierte der Bundesrat die Schweiz im neuen internationalen Umfeld. Grundtenor: Abkehr vom bisherigen Primat der Unabhängigkeitsbehauptung, Einordnung des Unabhängigkeitsziels in eine mehrdimensionale aussenpolitische Zielsetzung, Redimensionierung der Neutralität auf ihren völkerrechtlichen Kerngehalt, EU- und UN-Beitritt unter Wahrung der Neutralität, Teilnahme an Wirtschaftssanktionen, Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen der UNO und der OSZE unter Ausschluss von Kampfhandlungen, bündnisfreie internationale Kooperation in der Sicherheitspolitik.

In der neuen Bundesverfassung von 1999 sind die aussenpolitischen Ziele wie folgt definiert (Art. 54 Abs. 2):

«Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.»

In der Folge lehnten Volk und Stände 1992 den EWR-Beitritt ab (50,3%), nahmen 1999 die neue Bundesverfassung an (59,2%) und stimmten 2002 dem UN-Beitritt zu (54,6%). 1996 trat die Schweiz ohne Volksabstimmung der «Partnerschaft für den Frieden» bei, der 29 NATO-Länder und 22 Partnerstaaten angehören. Zuvor war eine «Partnerschaft für den Frieden» zwischen der NATO und Russland vereinbart worden. An Stelle des EWR-Beitritts gelang der Schweiz mittels bilateraler Verträge die weitgehende Teilnahme am EU-Binnenmarkt. Der EU-Beitritt wurde vertagt. Diese und andere Entscheide brachten eine Klärung der internationalen Positionierung der Schweiz, verstärkten aber die Polarisierung im Land.

Diese Polarisierung schlug auf die Neutralität durch und erreichte auch das Bundesratskollegium. Die Aussenministerin Calmy-Rey plädierte für eine «aktive Neutralität», der Justizminister Blocher für eine «umfassende Neutralität». Liest man die öffentlichen Reden im Fernduell der Kontrahenten nach, wird man gewahr, dass beide gar nicht die Neutralität im Visier hatten, sondern die gesamte Aussenpolitik abzüglich der Aussenwirtschaftspolitik. Die heutige Neutralitätsdebatte im Zeichen des Ukrainekrieges hat eine Vorgeschichte.

Aussen- und Innenansicht der schweizerischen Neutralität

Die Schweiz hat die Neutralität nicht erfunden. Aber sie hat die Neutralität weltweit am längsten praktiziert, nämlich rund ein halbes Jahrtausend. Und sie hat zur völkerrechtlichen Ausgestaltung der Landneutralität am meisten beigetragen (z.B. Schutzmandate, Flüchtlinge, Internierung, Freihandel).

Aus fremdländischer Sicht wurde und wird die schweizerische Neutralität unterschiedlich wahrgenommen, von den einen als honoriger Friedensbeitrag oder wenigstens als Politik der Selbstbehauptung eines Kleinstaats respektiert, von anderen als Heuchelei, Feigheit, Schwarzfahrerei und Profitsucht beargwöhnt. Während dem Ukrainekrieg ist unter den demokratischen Staaten das zögerliche Verhalten der Schweiz nicht gut angekommen und die Ablehnung der Wiederausfuhr von Kriegsmaterial nicht verstanden worden.

Aus schweizerischer Sicht ist die Geschichte der schweizerischen Neutralität, abgesehen von der Zeit 1798 bis 1815, eine Erfolgsgeschichte. Sie hat mitgeholfen, den inneren Zusammenhalt zu stärken, die Existenz der Eidgenossenschaft zu sichern und das Land aus Kriegen herauszuhalten. Die Neutralität galt überwiegend als kluges Konzept der Interessenwahrung, als legitime Politik eines Kleinstaats gegenüber den Grossmächten. In Ermangelung der Macht, über die grosse Staaten und Staatenverbindungen gebieten, versuchte der Kleinstaat mit Schlauheit durchzukommen. Zugleich verschaffte sich die Schweiz internationales Wohlwollen, indem sie das nüchterne Kalkül der Interessenwahrung durch solidarische Dienstleistungen wettzumachen versuchte.

Aufgrund der geschichtlichen Erfahrung erstaunt es nicht, dass Schweizer und Schweizerinnen die Neutralität in einem positiven Licht sehen. Im Zeitraum 1995–2022 stimmten 80 bis 97% mit steigender Tendenz dem Statement zu: «Die Schweiz sollte die Neutralität beibehalten.» Und in der Zeit 1999–2022 befürworteten mit aufsteigender Tendenz 65 bis 87% die Aussage: «Die Neutralität ist untrennbar mit unserem schweizerischen Staatsgedanken verbunden.»

Schweizerische Neutralität heute

Während die Schweizer Bevölkerung grossmehrheitlich zur Neutralität steht, ist in der Öffentlichkeit die zuvor schon polarisierte Neutralitätsdiskussion mitten im Ukrainekrieg zu einem heillosen Stimmengewirr eskaliert. Es reicht von der umfassenden (Blocher), integralen, immerwährenden und stärker bewaffneten Neutralität über die differentielle, aktive (Calmy-Rey), kooperative (Cassis), nichtdauernde (Rhinow), bündnisfreie, bündnisnahe (Villiger, Amherd, Burkart, Häsler), unbewaffnete (GSoA) und anständige Neutralität (Pfister) bis zur Infragestellung des Haager Neutralitätsrechts und zum Neutralitätsverzicht (Cottier).

Sind angesichts der überwältigenden Neutralitätstreue der Bevölkerung, der Verwirrung stiftenden Polarisierung der Neutralitätsexperten und des ungewissen Ausgangs des Ukrainekrieges Entscheidungen über die Zukunft der Neutralität im jetzigen Zeitpunkt sinnvoll? Sicher nicht! Mitten in einem Sturm wirft man den bewährten Kompass nicht vorschnell ins Korn. Was jetzt nottut, ist nicht eine ausufernde Neutralitätsdebatte, sondern prioritär die bestmögliche humanitäre Hilfe für die notleidenden Menschen in der Ukraine.

 

Weiterführende Literatur:
Alois Riklin, Neutralität am Ende? 500 Jahre Neutralität der Schweiz, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Bd.125 (2006), I Heft 5, S. 583–598.
Alois Riklin, Neutralität, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd.9, Basel 2010, S. 209–214.

 

Zum Autor:

Alois Riklin, Dr. iur., ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St.Gallen.

 

* Bild: VBS/DDPS – Jonas Kambli, Lizenz CC BY-NC-ND


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