Von Dr. iur. Mark E. Villiger

Prof. Dr. R. Rhinow veröffentlichte bei Unser Recht (08.07.2022) die schriftliche Fassung eines Vortrags «Wie weiter mit der Neutralität?». Dabei wählte er hauptsächlich den staatsrechtlichen bzw. -politischen Blickwinkel. Der folgende Beitrag skizziert eine persönliche, ergänzende Antwort aus völkerrechtlicher Sicht.

A. Rechtsgrundlagen

(1.) Vorab: Ist Neutralitätsrecht Recht? Selbstverständlich ist es das. Gerade auch die dauernde Neutralität der Schweiz ist ein völkerrechtliches Konstrukt der Staatengemeinschaft. Der Rechtscharakter wird auf allen Seiten akzeptiert und wurde von der Schweiz seit jeher postuliert.

(2.) Es greift zu kurz zu sagen, dass die dauernde Neutralität «nutzlos» sei, weil sie z.B. Belgien nicht davor verschonte, von Deutschland in zwei Weltkriegen überrannt zu werden (Rhinow, Ziff. 5). Es wäre etwa gleich, wie wenn man erwarten würde, dass einem die Brieftasche nicht mehr gestohlen wird, weil der Diebstahl strafrechtlich untersagt ist. Ohnehin handelt es sich im Fall von Belgien um eine völlig andere Situation, nämlich um eine auferlegte Neutralität (Neutralisierung). Die Schweiz ist kein neutralisierter Staat.

(3.) In der Tat ist der Rechtsbruch auf allen Stufen des Rechts ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich um «Recht» handelt. Wo es Recht gibt, wird es gebrochen. Würde es nicht gebrochen, wäre es kein Recht mehr. Richtig ist, dass zahlreiche Rechtsbrüche dazu führen können, dass einer Norm auf Dauer der Rechtscharakter abgehen kann. Das ist allerdings bei der dauernden Neutralität überhaupt kein Thema.

(4.) Natürlich hat die Verfassung Vorrang (Rhinow, Ziff. 1). Doch steht über der Verfassung das Völkerrecht, zu welchem die dauernde Neutralität der Schweiz gehört. Sie dient der Wahrung der Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz. Anders gesagt: Recht und insbesondere das Völkerrecht stellen den besten Schutz des Kleinstaates dar.

(5.) Weil die dauernde Neutralität der Schweiz völkerrechtlichen Charakter hat, ist es schwierig zu sagen, dass die Schweiz völkerrechtlich nicht zur Neutralität verpflichtet ist und diese jederzeit aufgeben könne (Rhinow, Ziff. 1). Auf den ersten Blick darf sie das, die Schweiz ist ein souveräner Staat. Das Konstrukt an Rechten und Pflichten des dauernden neutralen Staates bedeutet allerdings, dass die Staatenwelt auf Dauer von der Schweiz erwartet, dass sie dauernd neutral bleibt. Sie kann sich zwar davon lösen, doch muss dies in Treu und Glauben erfolgen. Der Vertrauensschutz würde hier zumindest temporäre Schranken setzen. Eine abrupte Preisgabe der Neutralität käme in der Staatenwelt nicht gut an.

(6.) Die völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen der dauernden Neutralität der Schweiz sind vielfältiger Art und geradezu legendär. Die schweizerische Praxis dazu reicht wesentlich weiter zurück als der Wiener Kongress (1814/1815), sogar wohl früher als die Zeit des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648), nämlich bis zurück zur Schlacht von Marignano (1515), vielleicht sogar in die Zeit der frühen Tagsatzung. Es ist unbestritten, dass die schweizerische dauernde Neutralität ins Gewohnheitsrecht erwachsen ist, welches im Völkerrecht eine ungleich grössere Rolle spielt als im innerstaatlichen Recht.

(7.) Es ist missverständlich zu sagen, dass die Schweiz das einzige Land der Welt sei, welches die völkerrechtliche dauernde Neutralität gewählt hat (Rhinow, Ziff. 8). Österreich hat dies ebenfalls getan, dann u.a. auch Malta und der Hl. Stuhl. Bei weiteren Staaten müsste man differenzieren, wofür hier der Platz fehlt.

B. Rechte und Pflichten des dauernd neutralen Staates

(8.) Die Rechte und Pflichten des dauernd neutralen Staates sind u.a. in zwei von mehreren Haager Konventionen von 1907 verankert, nämlich in der 5. und 13. Konvention. Sind diese Vertragstexte «diffus und hinkend» (Rhinow, Ziff. 6)? Die einzelnen Elemente lassen sich vergleichswese klar herausdestillieren. Dieser Autor, der diese Rechte und Pflichten u.a. an der Militärakademie der ETH dozierte, hatte jedenfalls keine nennenswerten Schwierigkeiten damit.

(9.) An dieser Stelle sollte präzisiert werden, dass die zwei Haager Konventionen von 1907 nur von einer vergleichsweise kleinen Zahl von Staaten ratifiziert worden ist (entsprechend der damaligen Zahl der Staaten). Diese und andere Haager Konventionen sind jedoch ins Völkergewohnheitsrecht erwachsen und daher für die Staatenwelt, auch für die Schweiz verbindlich. Dies wurde z.B. im Urteil des Nürnberger Kriegstribunals (1946) bestätigt. Es gibt soweit ersichtlich kaum einen, ja wohl keinen Staat, der je diese Rechte und Pflichten des neutralen Staates als solche je in Frage gestellt hat. Die Schweiz hat die Haager Konventionen auf einer Website des Bundes aufgeschaltet. Sie werden täglich in der Praxis im Schweizer Militär wie auch im österreichischen Bundesheer von Völkerrechtsoffizieren den Truppen vermittelt. Dass das Neutralitätsrecht auch gebrochen wird, ändert nichts an dieser Situation, im Gegenteil, das Recht wird dadurch bestätigt (oben Ziff. 3).

(10.) Die zwei Haager Konventionen gingen als Voraussetzung für das Inkrafttreten der Neutralität davon aus, dass ein Krieg förmlich ausgerufen werde. Seit dem die UNO-Charta (1945) in Artikel 2 Abs. 4 das Gewaltverbot statuiert, haben sehr wenige Staaten einen Krieg offiziell erklärt. Es werden vielmehr andere Gründe angeführt, beispielsweise die Selbstverteidigung. Heute dürfte es, gerade auch wegen des völkerrechtlichen Effektivitätsprinzips (ut res magis valeat quam pereat), unbestritten sein, dass das Neutralitätsrecht nicht mehr einen formellen Krieg, sondern einen bewaffneten Konflikt voraussetzt. Es gilt hingegen nicht bei innerstaatlichen Konflikten (Bürgerkriegen).

(11.) Die Haager Konventionen umschreiben als Pflichten aller, also auch gewöhnlich neutraler Staaten, im bewaffneten Konflikt beispielsweise, dass sie die Konfliktparteien nicht mit Truppen, Waffen und anderem Kriegsmaterial unterstützen dürfen. Sie haben ferner u.a. die Pflicht, neutralitätswidrige Handlungen durch die Konfliktparteien auf ihrem Staatsgebiet zu verhindern. An Rechten steht ihnen beispielsweise die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes zu, die Abwehr von Neutralitätsverletzungen, auch ihr humanitäres Handeln. Für die Schweiz, deren Neutralität völkerrechtlich verankert ist, kommt hinzu, dass sie berechtigt ist, die Anerkennung ihrer dauernden Neutralität von der Staatengemeinschaft einzufordern.

(12.) Für einen dauernd neutralen Staat gibt es bereits Pflichten in Friedenszeiten, also ausserhalb bewaffneter Konflikte. Er ist u.a. zu den sog. Vorwirkungen der dauernden Neutralität verpflichtet (Ziff. 18), sodann soll er eine bewaffnete Neutralität aufrecht erhalten (Ziff. 19) und eine Neutralitätspolitik führen (Ziff. 24). Angesichts dessen kann kaum gesagt werden, dass die dauernde Neutralität der Schweiz per se etwas «Passives» an sich hat (Rhinow, Ziff. 3).

C. Systeme kollektiver Sicherheit im Völkerbund und in der UNO

(13.) Der Völkerbund führte 1919 erstmals ein System kollektiver Sicherheit ein. Namentlich sah er Sanktionen der Mitgliedstaaten gegen einen Rechtsbrecher der Staatengemeinschaft vor. Damit knüpfte er an die frühe Theorie des «gerechten Krieges» an (bellum iustum, vgl. Alberico Gentili, 1598). Weil dieser «gerecht» war, erlaubte er kein Abseitsstehen der Staaten, daher auch keine Neutralität. Die Schweiz trat mit einer sog. differentiellen Neutralität dem Völkerbund bei und beteiligte sich an Wirtschaftssanktionen. Letztlich machte sie damit traumatische Erfahrungen: 1935 richtete sie ihre Sanktionen nicht nur gegen den Rechtsbrecher Italien unter der Herrschaft Mussolinis sondern aus Gründen der Gleichstellung auch gegen das schwache Opfer Abessinien. Dies führte zu starken Reaktionen im Inland wie auch in der Staatengemeinschaft. Die Schweiz kehrte noch vor dem Zweiten Weltkrieg zur integralen dauernden Neutralität zurück. Diese Erfahrungen wirkten jahrzehntelang nach.

(14.) Die UNO (1945-) übernahm das System der kollektiven Sicherheit des Völkerbundes, allerdings mit wesentlichen Verbesserungen. Weiterhin gilt, dass die UNO-Staaten einen Rechtsbrecher der Staatengemeinschaft sanktionieren können (Theorie des «gerechten Krieges», Ziff. 13). Die UNO selbst kennt keine «Welt-Polizei». Die Schweiz trat der UNO 2002 bei und verpflichtete sich damit, an diesen Sanktionen teilzunehmen. Sie hat sich in den vergangenen 20 Jahren ganz gewiss mit diesen Sanktionen auseinandergesetzt und an ihnen teilgenommen, sie sind ihr keineswegs fremd (Rhinow, Ziff. 6).

(15.) Grundsätzlich schliesst der Bundesrat eine Teilnahme an militärischen Sanktionen nicht aus, soweit es sich um legale Massnahmen zur Durchsetzung von Beschlüssen der Staatengemeinschaft handelt. Dies mag überraschen, entspricht jedoch dem Prinzip der völligen Handlungsfreiheit der Schweiz. Immerhin würde eine solche Teilnahme wohl nur höchst ausnahmsweise erfolgen, ihr müsste vorab eine umfassende Güterabwägung vorausgehen. In der Praxis handelt die Schweiz differenziert und beteiligt sich in der einen oder anderen Form an nichtmilitärischen Massnahmen. Wie andere dauernd neutrale Staaten auch (z.B. Österreich), behält sich die Schweiz einen gewissen Ermessensbereich vor,  gerade auch in der Art und im Ausmass der Teilnahme. Ausnahmen zur Teilnahmepflicht bestünden wohl dann, wenn massgebliche Staaten nicht an den Wirtschaftssanktionen teilnehmen, oder wenn nachträglich die Einheit der die Sanktionen durchführenden Staaten zerfällt. Die Schweiz misst ihre Teilnahme an diesen Sanktionen stets an ihrer dauernden Neutralität. Soweit diese nicht von den Sanktionen betroffen ist, bleibt sie weiterhin gänzlich intakt. Insgesamt scheint die Schweiz mit diesen Sanktionen bis anhin jedenfalls keine unguten Erfahrungen gemacht zu haben. Sie fügt sich damit problemlos in die Staatengemeinschaft ein.

(16.) Folglich belegen die Schweiz und Österreich wie auch andere neutrale Staaten, dass im Rahmen der UNO weiterhin Raum bleibt für eine dauernde Neutralität. Es ist nicht ersichtlich, dass ein anderer Staat je die diesbezügliche Haltung der Schweiz kritisiert hat. Der völkerrechtliche Charakter der dauernden Neutralität der Schweiz ist weiterhin solide etabliert.

(17.) Neuerdings treten die EU und einzelne ihrer Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten auf. Grundsätzlich halten sie sich dabei an die Prinzipien der UNO. Auch sie gehen von den Grundsätzen eines «gerechten Krieges» aus. Die Teilnahme der Schweiz an solchen wirtschaftlichen Sanktionen entspräche weitgehend der Situation in der UNO (Ziff. 14). Einzelne EU-Staaten gehen weiter und liefern Konfliktparteien militärisches Material, ohne direkt am Konflikt teilzunehmen. Ihnen kommt völkerrechtlich der Status der Nichtkriegführung zu, der mit der Neutralität prinzipiell unvereinbar ist.

D. Vorwirkungen der dauernden Neutralität

(18.) Im Konfliktfall kommen der Schweiz die gleichen Rechte und Pflichten zu wie jedem anderen neutralen Staat (Ziff. 8). Als dauernd neutraler Staat ist die Schweiz zusätzlich verpflichtet, in Friedenszeiten alles zu unterlassen, was sie in einen künftigen Konflikt hineinziehen könnte. Hier handelt es sich um die sog. Vorwirkungen der dauernden Neutralität. Dies entspricht Artikel 18 der Wiener Vertragsrechtskonvention (1969), gemäss welchem ein Vertragsstaat verpflichtet ist, Ziel und Zweck eines Vertrags vor seinem Inkrafttreten nicht zu vereiteln (Vertrauensschutz). Namentlich darf ein dauernd neutraler Staat in Friedenszeiten nicht einer militärischen Allianz wie z.B. der NATO beitreten. Davon zu unterscheiden ist eine etwaige Kooperation mit ihr (Ziff. 20). Gestützt auf diese Vorwirkungen führt die Schweiz auch eine Neutralitätspolitik (Ziff. 24).

E. Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit angesichts neuer Herausforderungen

(19.) Es ist im englischsprachigen Raum ein gelegentlich gehörtes Missverständnis, dass dauernd neutrale Staaten «friedfertig» zu sein haben und daher abrüsten müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Neutrale Staaten haben die Pflicht, neutralitätswidrige Handlungen von kriegführenden Staaten auf ihrem Staatsgebiet zu verhindern (Ziff. 11). Der deutsche Völkerrechtler Von der Heydte sagte einmal, gewiss etwas überspitzt, dass der dauernd neutrale Staat der letzte sei, der abrüsten dürfe. Aus dieser Pflicht bzw. zusätzlich dazu hat die Schweiz seit jeher das Recht abgeleitet, die für ihre Verteidigung notwendigen Vorkehren zu treffen. Die Schweiz verfolgt mithin eine bewaffnete dauernde Neutralität.

(20.) In diesem Sinne soll sich die Schweiz gegenüber neuen Bedrohungen wappnen (Ziff. 21). Vorbehalten bleibt, dass dies im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten erfolgt. Gerade dieser Vorbehalt bedingt, dass die Schweiz ihre dauernde Neutralität vor neuen Bedrohungen u.U. mittels internationaler Zusammenarbeit schützen muss. Solche Möglichkeiten gibt es viele. Sie können sich etwa im Zusammenhang mit der Teilnahme an den UNO-Sanktionen entwickeln. Ferner kooperiert die Schweiz bereits heute mit der NATO, weitere Vertiefungen sind denkbar. Im Raum steht auch die Teilnahme an militärischen Übungen der NATO (selbstverständlich nicht an Einsätzen in einem Konflikt). Um Missverständnisse zu vermeiden: Das Ziel bleibt stets, die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz zu fördern.

(21.) Neue denkbare Gefahren wären beispielsweise: Regionale europäische Konflikte ausgelöst durch Nationalismus, Minderheitenprobleme, Sezessionsbestrebungen oder Grenzstreitigkeiten; alsdann Kriege ausserhalb Europas mit Auswirkungen auf Europa; Erpressung mit Massenvernichtungswaffen; Terrorismus; Migrations- und Flüchtlingsströme; sowie Umweltzerstörungen und andere Katastrophen.

(22.) Bei allen diesen Formen der Kooperation hat der dauernd neutrale Staat sicherzustellen, dass er keine Verpflichtungen eingeht, die ihn dem Risiko aussetzen, in einen Konflikt hineingezogen zu werden. Letztlich muss die Schweiz die Freiheit haben, in völliger Unabhängigkeit über solche Massnahmen zu entscheiden. Entscheidend bleibt immer, dass ihr Verhalten als neutraler Staat verstanden wird und berechenbar bleibt.

(23.) Ob heute von einer autonomen Verteidigung der Schweiz Abschied genommen werden soll (Rhinow, Ziff. 4), kann hier offenbleiben, auch wenn dieser Autor diesbezüglich aus mehreren Gründen Zweifel hegt. Sicher ist, dass eine verstärkte internationale Zusammenarbeit angezeigt ist, die im oben erwähnten Rahmen ohne weiteres mit den Pflichten der dauernden Neutralität vereinbar ist (Ziff. 20). Letztlich geht es dabei einzig um die Sicherstellung der eigenen Verteidigungsfähigkeit.

F. Neutralitätspolitik

(24.) Die Neutralitätspolitik umfasst alle Massnahmen, die ein dauernd neutraler Staat freiwillig ergreift, um seine Neutralität zu schützen, zu erhalten und zu fördern. Für die Schweiz sichert sie die Glaubwürdigkeit ihrer dauernden Neutralität. Eine Pflicht hierzu ergibt sich nicht aus den Haager Konventionen (Ziff. 8), sie folgt vielmehr aus den Vorwirkungspflichten der dauernden Neutralität in Friedenszeiten (Ziff. 18). Die Neutralitätspolitik ist eines von mehreren Mitteln, um im Voraus sicherzustellen, dass die Schweiz in einem Konfliktfall neutral bleiben kann. Ihr bleibt vorbehalten, wie sie diese Mittel einsetzen will. Entsprechend variiert die Neutralitätspolitik von einem dauernd neutralen Staat zum anderen. Beispielsweise spielen die humanitäre Tradition und die Guten Dienste diesbezüglich eine bedeutsame Rolle für die Schweiz.

(25.) Bei der Schweiz kann gesagt werden, dass die Staatenwelt ihre Aussenpolitik stets auch daran messen werden wird, wie diese sich zu ihrer dauernden Neutralität verhält. Insofern ist die Aussenpolitik der Schweiz immer auch Teil der Neutralitätspolitik, ja sie soll es sogar sein. Darin liegt nichts Negatives, schon gar nicht Verwerfliches (Rhinow, Ziff. 2). Eine zentrale Rolle bei alldem kommt der Kommunikation des Bundesrates gegenüber der Staatenwelt zu, gerade auch, indem er klar und souveränitätsbewusst erläutert, was die jeweilige Neutralitätspolitik der Schweiz bedeutet und wie sie in ihre dauernde Neutralität einzubetten ist.

(26.) Angesichts der obigen Ausführungen zur dauernden Neutralität der Schweiz, auch im Zusammenhang mit dem System der kollektiven Sicherheit der UNO (Ziff. 14) und den Mitteln zur Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz (Ziff. 19), kann gesagt werden dass ihr hinsichtlich ihrer Neutralitätspolitik ein vergleichsweiser grosser Ermessensbereich zukommt. Angesichts dessen würde es zu kurz greifen, hier von einer «aufgeblähten» Neutralitätspolitik der Schweiz zu sprechen (Rhinow, Ziff. 2). Letztlich ist auch in diesem Bereich zentral, dass die Neutralitätspolitik für alle Staaten absehbar und verlässlich erscheint.

G. Würdigung

(27.) Es gibt verschiedene Gründe für die dauernde Neutralität der Schweiz. Ursprünglich sicherte sie innerstaatlich den konfessionellen Frieden, später verhinderte sie u.a. die bündnispolitische Spaltung. Heute ist es die Einsicht, dass die dauernde Neutralität wohl am ehesten die Sicherheit und Unabhängigkeit eines kleinen Staates gewährleistet. Aufgrund ihrer jahrhundertealten Tradition kann man sagen, dass die dauernde Neutralität eine wesentliche Grundlage der Eidgenossenschaft darstellt. Trotzdem sollte sie nicht in der Verfassung verankert werden, um der Schweiz ihre volle Handlungsfreiheit in allen künftigen Situationen zu sichern.

(28.) Das völkerrechtliche Konstrukt der dauernden Neutralität der Schweiz bedeutet, dass sie berechtigt ist, deren Anerkennung – und damit auch die Anerkennung ihrer Souveränität – von der Staatengemeinschaft einzufordern. Ihre dauernde Neutralität ist gewohnheitsrechtlich weltweit anerkannt, und wird allseits als gesicherter Wert respektiert. Sie preiszugeben, würde die Sicherheit der Schweiz zweifelsfrei schwächen, vielleicht sogar in Frage stellen. Ohnehin wäre der Vertrauensschutz zu berücksichtigen. Die Preisgabe der Neutralität als Vehikel für eine Selbstpositionierung in Europa zu verwenden, würde ihre zentrale und wesentliche umfassendere Bedeutung missverstehen (Rhinow, Ziff. 10). Ohnehin kann sich die stabile Lage in Europa jederzeit ändern.

(29.) Die Neutralitätspolitik der Schweiz wird immer zu Diskussionen führen, das ist der Sache immanent. Dabei ist sich jeweils vor Augen zu halten, welche der drei typischen Phasen des dauernd neutralen Staates die Schweiz gerade durchläuft: (i) zwischen den bewaffneten Konflikten spielt die Neutralität häufig eine geringere Rolle, immer wieder wird sie missverstanden; (ii) während eines bewaffneten Konflikts kommt ihre Bedeutung zur Geltung. Sie ermöglicht einem Staat, soweit dies im Rahmen der UNO möglich ist, sich legitimerweise in einem Konflikt unparteiisch zu verhalten; (iii) nach dem Konflikt kann die Neutralität von der Staatenwelt positiv (z.B. humanitäre Leistungen) oder negativ (z.B. als Profiteur) gewertet werden. Jede Phase enthält Herausforderungen, jede bietet immer auch Chancen für die Neutralitätspolitik.

(30.) Prof. Rhinow schreibt: Je ungewisser und komplexer die Entwicklung, desto wichtiger wird die Handlungsfreiheit für die Schweiz (Rhinow, Ziff. 8). Dieser Autor würde aus völkerrechtlicher Sicht präzisieren: Handlungsfreiheit hat die Schweiz allemal. Aber: Je ungewisser und komplexer die Entwicklung, desto wichtiger ist es, dass das Handeln der Schweiz als dauernd neutraler Staat gegenüber der Staatenwelt absehbar, konstant und vor allem verlässlich bleibt.

 

Zum Autor:

Mark E. Villiger, Dr. iur., ist Titularprofessor an der Universität Zürich und unterrichtete in den Bereichen Europa- und Völkerrecht. Er war von 2006–2016 Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für Liechtenstein.

 

* Bild: VBS/DDPS – Jonas Kambli, Lizenz CC BY-NC-ND


Über uns

Der Verein «Unser Recht | Notre Droit | Nostro Diritto | Noss Dretg» hat zum Zweck, für Verständnis, Achtung und Weiterentwicklung von Rechtsstaat und Völkerrecht im Verhältnis zur Demokratie einzutreten. Er nimmt an der öffentlichen Meinungsbildung und der politischen Willensbildung teil. Hierzu schafft er ein Kompetenz-Netzwerk.
Jetzt Mitglied werden oder Newsletter abonnieren per Mail an kontakt@unser-recht.ch


 

 

Print Friendly, PDF & Email