Mehrere Texte von “Unser Recht” haben sich mit Grundrechten im Alter befasst. Auch pflegende und betreuende Angehörige berufen sich auf Grundrechte. Wir veröffentlichen hier einen Bericht  unserer Leserin Christiane Faschon (Berg TG). Sie ist dipl. Religionspädagogin, Fachjournalistin (BR), Dozentin und langjährige Pflegende.

“Pflege bis zum bitteren Ende?”

Pflegende Angehörige legen nicht nur in Corona-Zeiten einen kräftemässigen Marathon hin. Sie haben allgemein zu wenig Unterstützung, kämpfen mit Institutionen und dem medizinischen System. Die Politik redet, handelt aber kaum. 

Einkaufen, Essen kochen, Begleitung zu Arztterminen, Anträge an Institutionen schreiben, Informationen zu Medikamenten und Therapien sammeln, zuhören, trösten, dasein, ca. 3 Stunden pro Tag. Das ist seit fünf Jahren Alltag von Daniel* neben dem Beruf. Er unterstützt mit seiner Frau die an Krebs erkrankte Tochter. Die junge Frau lebt nach Operationen und Chemotherapie mit schwersten Schmerzen in einer abgedunkelten Wohnung. «Wir haben unsere Arbeit auf 60 und 50 Prozent reduziert», berichtet Daniel*. Dies alles ist erschöpfend und zeitraubend. Ein Mal pro Woche kommt die Spitex zur Haushaltshilfe.

Bei Brigitte* sieht es ähnlich aus. Die Journalistin pflegt seit Jahren ihren schwerkranken Sohn täglich drei Stunden unter der Woche. Dazu kommen Wäsche, Einkäufe und Bürokratie. «Am Wichtigsten ist es, neben ihm zu sitzen, zuzuhören, die Hand zu halten. Einfach da zu sein. Und manchmal zusammen zu weinen».

Anna ist die alleinerziehende Mutter von Sophia*. Das schwer behinderte Mädchen ist vollständig auf Pflege angewiesen. Sie wird einen Tag pro Woche von einer Tagesmutter, einen von der Grossmutter und seit einem Jahr vier Vormittage in einer heilpädagogischen Institution betreut. Dort übernachtet sie drei Mal/ Woche sowie jedes zweite Wochenende. So kann die Mutter Beziehungen pflegen. Sophia nimmt am Familienleben, an Besuchen, Ausflügen teil.

Karin* pflegt seit Jahren ihre hochdemente Mutter, 500 Stunden in Monat mit 15 Stunden Entlastungsdienst am Wochenende (Vorgabe kesb). Sechs halbe Tage kommt externe Hilfe pro Woche. Manchmal springt die Schwester ein.

Neben dem eng getakteten Alltag kommt für alle Pflegenden die ständige Organisation als Belastung hinzu: Nichts kann spontan geschehen, jeder Termin der Pflegenden zieht weitere für die betreute Person nach sich. «Krank werden darf man nicht», sagt Karin. 

Alle diese Pflegenden haben zudem weniger Einkommen; dem stehen vermehrt Kosten gegenüber. Bei Daniel für Medikamente für die Tochter etwa. Der mehrjährige Prozess bis zur IV musste vorfinanziert werden. Karin konnte wegen der Pflege nicht voll arbeiten und hat jetzt ein Loch in der Pensionskasse. «Dazu legt die Kesb fest, wieviel Entlastung ich bekomme. Zusätzliche Betreuung muss ich selbst bezahlen.» Brigitte* übernimmt Kosten für den Sohn: «Er bekommt jetzt nach jahrelangem Prozess endlich IV. Als er dort nachfragte, hiess es, man warte auf seinen Tod». Sozialversicherungen und Kesb erweisen sich ausser bei Geburtsgebrechen oft als nervenaufreibend, so Brigitte. Dabei entlasten Pflegende die Systeme massiv. (Ein Demenz-Heimplatz kostet 11’000 Franken pro Monat.) Nur Anna* erhält von der IV alle Hilfen finanziert bis zur Volljährigkeit der Tochter.

Die Politik bewegt sich nicht

Hanspeter Heeb, Kantonsrat glp und Kirchenrat der evangelischen Landeskirche im Thurgau, sagt:«Viele Angehörige pflegen bis zur Erschöpfung. Das ist ein Beweis für Mitmenschlichkeit. Rechtlich sind Angehörige aber nicht zur Pflege verpflichtet. Nur Personen mit hohem Vermögen/Einkommen werden rein finanziell zur Verwandten-Unterstützung heran gezogen. Selbst der ehelichen Beistandspflicht inklusive Krankenpflege sind gesetzliche Grenzen in der Leistungsfähigkeit des Pflichtigen und in der Zumutbarkeit der Leistung gesetzt. Aber die Gesellschaft beutet hier Nächstenliebe schamlos aus.»

Der Staat bietet für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen wie Demenz in erster Linie Heimlösungen an. Dies lehnen viele ab, «Kontakte nur bei Besuchen oder am Wochenende sind oft kaum zumutbar». Der Staat befinde sich in einem Dilemma, so der Jurist. Man glaube, es sei zu teuer, Angehörige und Hilfskräfte angemessen zu entschädigen. Pflegende Angehörige leisten in der Schweiz  rund 64 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit im Wert von 3,5 Milliarden Franken. Es gibt Assistenzentschädigung, aber nur im IV Fall mit zu kleinen Beiträgen. Angesichts von 20 Milliarden Subventionen für die Landwirtschafte (Quelle avenir suisse) erscheint die Zurückhaltung bei der Pflegeentlastung unverständlich.

Bernhard Erb, Mitarbeiter der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter, beklagt das Fehlen eines wegweisenden Entscheids des Bundesgerichts. Er denkt an einen Musterprozess der pro senectute. Es gebe oft zu wenig Entlastung und die Struktur der Institutionen wende sich gegen die Pflegenden. Er spricht von «struktureller Gewalt» und plädiert für mehr Öffentlichkeit.

Kristy Keller, Gemeinderätin in einem Dorf, hat sich selbst stundenlang zum Thema informiert, sonst hätte sie «fast nichts darüber gewusst». Sie verweist auf kantonale Pilotprojekte. So etwas möchte sie gern auch initiieren! Pflegende hätten es schwer, da die Situation der Hilfs-Angebote unübersichtlich sei. Am besten gehe man zu einer Beratung. Als Gemeinderätin wünscht sie sich «mehr Informationen und Strukturen direkt vom Kanton, ich habe allerdings gehört, dass nicht alle Gemeinden das wollen».

Menschenrechte und Streik

Hanspeter Heeb verweist auf die Behindertenkonvention der UN (von der Schweiz unterzeichnet), Artikel 16(2): «Die Vertragsstaaten treffen…alle geeigneten Massnahmen, um jede Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu verhindern, indem sie unter anderem geeignete Formen von das Geschlecht und das Alter berücksichtigender Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien und Betreuungspersonen gewährleisten, einschliesslich …Informationen und Aufklärung darüber, wie Fälle von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch verhindert, erkannt und angezeigt werden können.»

Und auf ZGB Art. 27 ²: Danach kann sich niemand «seiner Freiheit entäussern oder sich in ihrem Gebrauch in einem das Recht oder die Sittlichkeit verletzenden Grade beschränken». Der Jurist meint, dass 500 Stunden Pflege im Monat diesen Artikel verletzt! Dazu komme, dass die Kesb und IV ihren Auftrag oft mangelhaft ausführten.

Als Lösung sieht der Kantons- und Kirchenrat einen Streik der Pflegenden in einer situationsgerechten Form. Dann müssten Politik, Medien und Institutionen endlich das Problem anerkennen und angehen. Bei den Kirchen beklagt der Kirchenrat wie viele einschlägige Kirchenstellen ein fehlendes Bewusstsein für die Situation.

Zerbrechliches Leben

Dass pflegende Angehörige überlastet sind und vermehrt krank, ist gut belegt. Corona verschärft die Situation, da viele Pflegenden und Entlastungskräfte über 65 Jahre alt sind. «Für Beziehungen, Kultur, Sport, Erholung bleibt zu wenig Zeit und Kraft», so Daniel. (Seine Frau und er können etwa kaum Ferien zusammen machen.) Auch für die Pflege der Freundschaften fehlt Zeit und Kraft. Und: «Viele Menschen können schwer aushalten, dass ‚es nicht besser wird’», so Daniel*. Sie kommen dann mit «gut gemeinten» Ratschlägen. In der Folge verstummen die Pflegenden. Und: Krank werden darf man selbst nicht. Denn wer übernimmt dann die Arbeit?

Jede schwere Erkrankung trifft nicht nur die betroffene Person und die Pflegenden. Sie trifft PartnerInnen, Geschwister, Familienmitglieder, FreundInnen; nicht alle Beziehungen halten stand. Das kranke Familienmitglied braucht Zeit, Kraft, Geld, da bleibt dann für «die Gesunden» meist zu wenig. «Wir leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung, mit Schmerz, Zorn, Trauer, Erschöpfung, auch Momenten grosser Nähe. Wir leben mit der Zerbrechlichkeit des Lebens», sagt Brigitte. Annas Sohn habe dagegen ausreichend Unterstützung, sagt die Mutter.

Gespräche mit Menschen in gleicher Situation helfen. Da müsse man nichts erklären, meinen alle. Und praktische Unterstützung (etwa ein paar Stunden eine Putzfrau zu bezahlen). Eine Freundin von Karin kommt mit Essen und Gartenhandschuhen. Haustiere erweisen sich als Hilfe für manche Kranken. Sie sind ein Stück Lebendigkeit. Sport, Meditation/Gebet, Seelsorge und Therapien können Hilfen sein. Allerdings sei vor den «furchtbar Frommen» (inklusive EsoterikerInnen) gewarnt, die genau die Gründe für dieses Leid kennen, alternierend Sünde, Karma, falsche Ernährung.

Pflegende Angehörige können – und müssen – Tag für Tag, Nacht für Nacht da sein. Sie tun es. Und haben endlich angemessene Unterstützung verdient im Rahmen der Menschenrechte, ohne Freiheitsberaubung und strukturelle Gewalt! Und endlich auch mit einem substanziellen Beitrag aus den Corona-Geldern.

* Namen geändert.

Quote:

Vaclav Havel: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal, wie es ausgeht

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