Das Nein des Nationalrats zur Umsetzung des Reformpakets zum Schengener Informationssystem gefährdet die Einhaltung der vertraglichen Übernahmefrist. 

Der Nationalrat hat überraschenderweise die Umsetzung des Reformpakets zum Schengener Informationssystem (SIS) abgelehnt. Verantwortlich hierfür war eine unheilige Allianz zwischen den Grünen, der SP und der SVP. Die Parlamentsdebatte liess weitgehend die Dimension der internationalen Verpflichtungen der Schweiz ausser Acht und ignorierte die negativen – vordergründig unbeabsichtigten – Folgen dieser Ablehnung auf die Schengen-Assoziierung der Schweiz.

Am 17. September 2020 hat der Nationalrat mit einer knappen Mehrheit von 97 Stimmen (Grüne und SVP) zu 94 (FDP, GLP, Mitte) bei 38 Enthaltungen (SP) die Umsetzung der Weiterentwicklung des Schengener Informationssystems (SIS) ins Schweizer Recht entgegen der Empfehlung der beiden zuständigen Parlamentskommissionen SiK-N und SPK-N abgelehnt. Die destruktive Art und Weise, in der diese Ablehnung erfolgte, ist ernüchternd. Grüne und SP beanstandeten eine angebliche Verschärfung des Ausländerrechts, die SVP die Übernahme von EU-Recht, welche sie grundsätzlich ablehnt. Kaschiert haben sowohl die Linken wie auch die SVP ihre Ablehnung bzw. Enthaltung mit dem Einbringen von Minderheitsanträgen, welche bei den jeweils anderen Fraktionen chancenlos und darüber hinaus weitgehend sachfremd waren.

Während FDP, GLP und die Mitte-Fraktion die Neuerungen und Fortschritte der SIS-Weiterentwicklung zumindest ansprachen, blieb die Argumentationslinie von Grünen, SP und SVP allein auf ihre jeweiligen Minderheitsanträge fokussiert. In der Schlussabstimmung scheiterte der Antrag auf die Umsetzung des Reformpakets zum SIS jedoch nicht zuletzt auch wegen der Fraktionsdisziplin der Polparteien. Angesichts des schlussendlich sehr knappen Stimmergebnisses (3 Stimmen Unterschied) und der Tragweite der Ablehnung einer Schengen-Weiterentwicklung wäre es aber durchaus angebracht gewesen, wenn die Parlamentsmitglieder ihre Stimmfreiheit nach eigenem Gutdünken ausgeübt hätten, was sie kraft des Schweizer Systems der Personen- statt Parteiwahl und der sich daraus ergebenden grossen demokratischen Legitimation durchaus machen dürften (vgl. dazu diesen Artikel von Beat Kappeler: «Die Macht der Panachierer»). In Anbetracht der Folgen der Ablehnung einer Schengen Weiterentwicklung für die internationalen Verpflichtungen der Schweiz hätte ein bewussteres Stimmverhalten aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem anderen Resultat geführt. Leider jedoch schienen die Nationalrätinnen und -räte den anwendbaren rechtlichen Rahmen der Schweizer Schengen-Assoziierung und die damit verbundenen laufenden Übernahmefristen bei Weiterentwicklungen zu ignorieren.

Das Schengener Assoziierungsabkommen (SAA) sieht bei Weiterentwicklungen des Schengen Besitzstandes eine Übernahmefrist von zwei Jahren vor (Art. 7 Abs. 2 SAA). Bei der SIS-Revision läuft diese Frist am 20. November 2020 ab. Angesprochen wurde die damit einhergehende Dringlichkeit des Geschäfts überraschenderweise aber nur vom Sprecher der SiK-N und Bundesrätin Keller-Sutter, wobei beide zum Schluss kamen, dass diese Frist im vorliegenden Fall nicht massgebend sei. Wie sie zu diesem Schluss kamen, ist aus dem Wortprotokoll leider nicht ersichtlich.

In der SIS-Botschaft des Bundesrates vom 6. März 2020 findet man auch keine genaueren Angaben dazu, abgesehen von einem Nebensatz, der festhält, dass der Anwendungsbeginn der neuen SIS-Bestimmungen erst für einen «späteren Zeitpunkt» vorgesehen sei und, dass deshalb ein gewisses Mass an Flexibilität bestehen dürfte, die Frist «gegebenenfalls in pragmatischer Weise etwas auszudehnen». Wenn man sich die zeitliche Verzögerung, welche die Ablehnung des Geschäfts im Nationalrat mit sich gebracht hat, vor Augen hält, dürfte klar sein, dass diese weit über ein annehmbares «Mass an Flexibilität» hinausgeht. Vorausgesetzt, dass der Ständerat die Übernahme der SIS-Revision in der Wintersession genehmigt, findet das Bereinigungsverfahren vermutlich in der darauf folgenden Session im Frühling 2021 statt. Nimmt man weiter an, dass der Nationalrat die Vorlage im Frühling definitiv genehmigt, läuft ab dann die 100-tägige Frist für ein allfälliges Referendum (bis etwa anfangs Juli 2021). Kommt das Referendum zustande, ist eine Abstimmung frühestens im November 2021 realistisch.

Das heisst, dass die Ablehnung der SIS-Vorlage durch den Nationalrat vom 17. September 2020 zu einer verzögerten Inkraftsetzung des revidierten Gesetzes von mindestens 7-8 Monaten bzw. einem Jahr geführt hat und dies ohne, dass eine Debatte über die Bedeutung einer solchen Fristüberschreitung stattgefunden hätte. Ein Blick auf die Fristenregelung im SAA zeigt, dass diese Verzögerung bedeutende Risiken birgt und deshalb nicht kleingeredet werden darf. Das SAA sieht die automatische Beendigung der Schweizer Assoziierung an Schengen und Dublin innerhalb von 6 Monaten ab der nicht-rechtzeitigen Übernahme einer Schengen Weiterentwicklung vor, es sei denn, der Gemischte Ausschuss findet innert 90 Tagen eine alternative, einstimmig verabschiedete Lösung (Art. 7 Abs. 4 SAA).

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass eine automatische Beendigung der Assoziierung der Schweiz unwahrscheinlich ist und niemand ein Interesse daran haben dürfte. Aber erstens dürfte der Nationalrat diese Überlegung bei seiner Ablehnung nicht in sein Kalkül miteinbezogen haben und zweitens widerspricht die Ablehnung de facto dem wiederholt geäusserten Volkswillen für die Schengen-Assoziierung und eine konstruktive Europapolitik, zuletzt 2019 mit der klaren Bestätigung der Schengener Waffen-Richtlinie (63,7% Ja) und erneut am vergangenen Sonntag, 27. September 2020, mit der klaren Ablehnung der Kündigungsinitiative (61,7% Nein).

Wie der Nationalrat die SIS-Vorlage in seiner Herbstsession behandelt hat, ist deshalb kurzsichtig und vor dem Hintergrund der Verknüpfung sachfremder Anliegen schlicht unverantwortlich. Man würde erwarten, dass die zusätzliche Sicherheit und Freiheit, welche die Schweiz bzw. ihre Bürgerinnen und Bürger dank der Schengen-Assoziierung geniessen, mehr politische Wertschätzung verdient hätte. Es bleibt zu hoffen, dass der Ständerat die Leichtsinnigkeit des Nationalrats korrigiert und dieser bei seiner Zweitabstimmung zu einer anderen Schlussbeurteilung kommt. Die entstandene Verspätung im SIS-Zeitplan bleibt wie auch die daraus resultierende Schwächung der Schweizer Position gegenüber ihren europäischen Partnern und das Damoklesschwert der impliziten Rückkommensanträge der Polparteien auf mehrfach abgesegnete Grundsatzentscheide zur Zusammenarbeit mit der EU trotzdem bestehen.

 

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