Das Ruanda-Paradigma in der Galerie der gescheiterten Paradigmen im Asylwesen

Von Stefan Schlegel

In verschiedenen Staaten Europas gewinnt gerade die Idee an Konjunktur, das Asylverfahren oder gar das ganze Asylwesen an Drittstaaten ausserhalb Europas auszulagern. Doch die juristischen Probleme an diesem Plan sind fast unüberwindbar. Und die politischen Probleme sind sogar noch grösser.

Seit die Schweiz eine eigentliche Asylpolitik hat, steht diese unter enormem Druck, «die Kontrolle zurückzugewinnen», über ein Phänomen, von dem viele Menschen das Gefühl haben, es sei ausser Kontrolle geraten. Weil es aber ein Phänomen ist, dessen «Kontrolle» den Interessen derer, die in erster Linie davon betroffen sind – den Schutzsuchenden –fundamental entgegenläuft, entzieht es sich der Kontrolle hartnäckig. In rascher Folge wurden daher am Asylwesen eine Reihe von unterschiedlichen Paradigmen mit jeweils relativ grosser Hoffnung ausprobiert und dann wieder fallen gelassen.

Eine frühe Idee bestand darin, dass das Asylwesen eine Hintertür in den Arbeitsmarkt sei, und Menschen aus dem Asylsystem daher der Zugang zum Arbeitsmarkt für eine möglichst lange Übergangszeit verwehrt werden müsse, um den Anreiz dieser Hintertür zu verringern. In den 90er-Jahren wurde die Massnahmenhaft eingeführt und an den Flughäfen des Landes Gefängnisse gebaut. Danach kam das Paradigma, Asylsuchende möglichst abgelegen unterzubringen – in Valzeina, auf dem Jaunpass und in unterirdischen Zivilschutzanlagen. Um die Jahrtausendwende bestand das Rezept darin, den Zugang zu öffentlicher Unterstützung möglichst zu unterbinden. Es wurde das Nothilferegime geschaffen, in dem abgewiesene Asylsuchende nur noch minimal versorgt wurden. Zur gleichen Zeit wurde auch mit viel Hoffnung die Strategie verfolgt, möglichst nicht auf ein Asylverfahren eintreten zu müssen. In rascher Folge wurden immer neue Nichteintretensgründe geschaffen, bis diese so umständlich zu handhaben wurden, dass sie praktisch alle gemeinsam wieder abgeschafft wurden (BBl 2010 4455 4465). An ihre Stelle trat ein mit besonders viel Hoffnung verfolgtes Paradigma: Rasche Verfahren in zentralisierten Infrastrukturen, kombiniert mit «konsequenten» Ausschaffungen. Dieses Paradigma hat durch die Coronakrise, in der weniger Schutzsuchende Europa erreichten, eine gewisse Schonfrist erhalten. Aber nun, da die Gesuchszahlen wieder steigen, stösst auch dieses Paradigma an seine Grenzen (vgl. Asylmonitoring 2022, S. 5). Es drohen frühzeitige Zuweisungen an die Kantone, bevor das Verfahren erledigt ist; die Zieldauer der Verfahren kann in einem steigenden Anteil der Fälle nicht eingehalten werden, das Schicksal der Betroffenen ist im Ungewissen; sie beginnen eine an sich unerwünschte Integration und werden in der Tendenz zu Härtefällen. Genau, was das System eigentlich verhindern sollte.

Viele dieser Paradigmen waren europäische Trends; sie sind in verschiedenen europäischen Staaten ungefähr zur gleichen Zeit entstanden, von einem Staat in den anderen weiterverbreitet worden und in verschiedenen Staaten etwa zur gleichen Zeit wieder für überholt befunden worden.

Nächstes Paradigma: Auslagerung und Abschiebung

Es ist jetzt schon absehbar, von welchem Paradigma jenes der raschen Verfahren abgelöst werden könnte; die Euphorie für ein neues Paradigma ist gerade dabei, sich aufzubauen: Auslagerung an Drittstaaten; entweder nur das Asylverfahren, oder – noch lieber – das ganze Asylwesen, sodass auch anerkannte Flüchtlinge in einem Drittstaat verbleiben müssen. Die mildeste Variante dieses Paradigmas – von den EU-Innenministern bereits beschlossen – ist die Durchführung der Verfahren (für gewisse Gruppen von Flüchtlingen) direkt an den Aussengrenzen. Es handelt sich hierbei um eine Art Hybrid aus Auslagerung und raschen Verfahren in zentralisierten Infrastrukturen. Ob sich auch das EU-Parlament darauf einlassen wird, ist noch ungewiss.

Dieses noch recht neue Rezept zur Rückgewinnung der Kontrolle hat soeben einen herben Rückschlag erlitten – und zwar dort, wo es schon am weitesten vorangetrieben worden war: Im Vereinigten Königreich, wo der Supreme Court eine Politik für rechtswidrig erklärt hatte, mit der das britische Asylwesen gegen Geld hätte teilweise nach Ruanda ausgelagert werden sollen. Das Urteil hat sofort zu politischem Druck auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geführt. In der Tory-Party haben gewichtige Stimmen erneut deren Kündigung gefordert, wie schon früher nach Gerichtsurteilen, die sie nicht mochten. Neben den vielen anderen Gründen, die gegen eine Kündigung der EMRK sprechen, ist vorliegend wichtig zu betonen, dass die Ruanda-Politik mit einer Kündigung nicht rechtmässig würde. Sie verstösst nämlich nicht nur gegen die EMRK, sondern auch gegen eine Reihe von weiteren internationale Abkommen und gegen das britische Landesrecht. Besonders ärgerlich für die Tories: Wie das höchste Gericht festhält, verstösst die Politik auch gegen internationales Gewohnheitsrecht und wäre daher auch dann noch rechtswidrig, wenn das Vereinigte Königreich alle entsprechenden Garantien aus dem Landesrecht entfernen und alle entsprechenden Abkommen kündigen würde. Was der Gerichtshof nicht in der wünschbaren Klarheit gesagt hat: Die Ruanda-Politik verstiesse wohl auch gegen zwingendes Völkerrecht, das alle Staaten unter allen Umständen bindet. Die rechtlichen Hindernisse bezüglich dieser Politik wären also selbst dann noch unüberwindbar, wenn das Vereinigte Königreich sich entscheiden würde, seiner Asylpolitik wegen zum Paria-Staat zu werden.

Piece de resistance: Refoulementverbot

Was der Ruanda-Politik so hartnäckig entgegensteht, ist das sogenannte Refoulement-Verbot. Dieses tritt in zwei unterschiedlichen Varianten auf. Der Unterschied zwischen den beiden ist vorliegend wichtig. Die erste Variante ist der Kern des Flüchtlingsrechts, die zweite Variante ist eine Folge des Verbots der Folter, der grausamen und unmenschlichen Behandlung. Das flüchtlingsrechtliche Refoulement-Verbot ergibt sich aus Art. 33 der Flüchtlingskonvention und aus Art. 25 Abs. 2 der Bundesverfassung. Es verbietet, einen Menschen in einen Staat zu schicken, wo er dem Risiko ausgesetzt wäre, im Sinne der Flüchtlingskonvention verfolgt zu werden; also gezielter Verfolgung auf Grund seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung.

Die zweite Variante geht viel weiter: Sie verbietet es, einen Menschen an einen Ort zu schicken, an dem das reale Risiko besteht, dass er Folter, grausamer oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt ist. Es ergibt sich aus der EMRK, aus dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, aus dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte und aus Art. 25 Abs. 3 der Bundesverfassung. Es geht vorliegend vor allem um dieses zweite Refoulement-Verbot. Dieses erfüllt im Kontext der Auslagerung von Asylverfahren eine Art Vorfeldfunktion für das flüchtlingsrechtliche Refoulement. Es greift in Bezug auf eine grössere Gruppe Menschen, und es würde auch dann noch greifen, wenn die Flüchtlingskonvention aufgekündigt oder abgeschwächt würde.

Instruktiv für den Unterschied zwischen den beiden Varianten ist deren unterschiedliche Formulierung in der Bundesverfassung. Art. 25 Abs. 2 BV, der das flüchtlingsrechtliche Refoulement-Verbot enthält, lautet: «Flüchtlinge dürfen nicht in einen Staat ausgeschafft oder ausgeliefert werden, in dem sie verfolgt werden.» Art. 25 Abs. 3 hingegen lautet: «Niemand darf in einen Staat ausgeschafft werden, in dem ihm Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht.» Das erste Refoulement-Verbot betrifft also nur Flüchtlinge, das zweite betrifft alle Menschen. Ob ein Mensch ein Flüchtling oder ein Terrorist ist, ist für diese zweite Variante des Refoulement-Verbots unerheblich. Ebenso, ob die grausame oder unmenschliche Behandlung einem Menschen gezielt zugefügt würde, oder eine Folge einer Situation allgemeiner Gewalt oder des vollkommenem Chaos wäre. Das Refoulement-Verbot gilt auch bei mehreren beteiligten Akteuren. Es macht unter Umständen das Vereinigte Königreich für die Situation in Ruanda mitverantwortlich. Wenn beispielsweise die Gefahr bestünde, dass der Staat Ruanda einen Menschen in einen dritten Staat senden könnte, in dem er grausamer Behandlung ausgesetzt würde, wäre es schon dem Vereinigten Königreich verboten, diese Person nach Ruanda zu senden.

Eine weitere wichtige Qualifikation dieses zweiten Refoulement-Verbots im Vergleich zum flüchtlingsrechtlichen Refoulement-Verbot ist: Es gilt absolut, denn es ist ein Abkömmling des Folterverbots. Wenn man einmal selber versucht, Kriterien auszudenken, nach denen es gerechtfertigt oder verhältnismässig wäre, jemanden grausam oder unmenschlich zu behandeln, wird rasch klar, dass es davon eigentlich keine zu rechtfertigende Ausnahme geben kann, und dass es sehr gefährlich wäre, Ausnahmen zuzulassen. Wenn eine Schwelle an Dringlichkeit oder Gefährlichkeit erreicht werden müsste, um Menschen grausam behandeln zu dürfen, würden Staaten Begründungen finden, warum dieses Mass vorliegend erfüllt sei. Wer beobachtet hat, mit welchem Alarmismus das Vereinigten Königreich auf die Ankunft von Flüchtlingsbooten reagierte – die Innenministerin sprach von einer «existentiellen Bedrohung» – kann sich gut vorstellen, wie der äusserste Notstand herbeiargumentiert würde, wenn dies genügen würde, um Menschen grausamer und unmenschlicher Behandlung aussetzen zu dürfen.

Das (notwendige) Eigenleben des Refoulement-Verbotes

Aufgrund dieser absoluten Natur wohnt dem Verbot der unmenschlichen und grausamen Behandlung eine gewisse Dynamik inne. Wenn es einmal im Alltag angewendet werden muss, entwickelt es fast zwingend ein Eigenleben. Der erste Schritt in dieser Dynamik: Es ist praktisch nicht möglich, zu begründen, dass ein Verbot grausamer und unmenschlicher Behandlung nur bis an die Landesgrenze gelte, aber wenn man jemanden grausamer und unmenschlicher Behandlung anderswo aussetze, sei das in Ordnung. Ist dieser Schritt aber einmal getan, ist es fast nicht mehr möglich, Refoulement aus gewissen Gründen dennoch zuzulassen. Es ist deshalb verboten, weil es grausam ist, nicht, weil es aus bestimmten Gründen erfolgt, die legitimer erscheinen als andere. Ist dies einmal anerkannt, so ist es auch kaum noch möglich, Menschen ein Verfahren zu verweigern, in welchem individuell abgeklärt wird, ob sie grausamer und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt wären, wenn sie in ein bestimmtes Land geschickt würden. Aufgrund dieses Entwicklungsschrittes, der das Verfahren betrifft, ist das menschenrechtliche Refoulement-Verbot zu einer zentralen Rahmenbedingung für das Flüchtlingsrecht geworden. Es verlangt für eine Rücksendung in den Herkunfts- oder in einen Drittstaat ein individuelles Verfahren, weil nur in diesem festgestellt werden kann, ob ein Mensch dem Risiko grausamer und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt wäre. Es entfaltet seine Wirkung schon auf hoher See, schon an den Aussengrenzen, und bis nach Ruanda, wenn ein europäischer Staat mitverantwortlich dafür ist, wer als Asylsuchender in Ruanda landet.

Ein «lebendes Instrument» veraltet nicht

Unter den Kritiker:innen des EGMR und des Supreme Court-Entscheids gegen die Ruanda-Politik zirkulierte die Idee, das System des Refoulement-Verbotes sei veraltet; die Schöpfer:innen der EMRK, der Flüchtlingskonvention und anderer internationaler Instrumente hätten sich weder das Ausmass der Migrationsbewegungen noch das Ausmass der Bedrohung durch Terrorismus vorstellen können, mit dem Europa heute konfrontiert sei. Es sei daher an der Zeit, den Schutz der Menschenrechte dem Ausmass dieser Herausforderungen anzupassen. Aber das ist ein Missverständnis darüber, wie internationale Konventionen funktionieren; besonders die EMRK, die als einzige dieser Konventionen mit einem Gerichtshof ausgestattet ist, der im Einzelfall und verbindlich entscheiden kann. Ihre Rechtsprechung macht die Menschenrechtskonvention zu einem «lebendigen Instrument», das immer auf die drängendsten Probleme der jeweiligen Zeit Antwort geben muss. Die EMRK ist daher in einem gewissen Masse immer ein Kind jener Zeit, in der sie angewandt wird, nicht nur jener Zeit, in der sie geschrieben wurde. Die Anerkennung eines Refoulement-Verbotes durch den Gerichtshof ist relativ jung. Sie begann 1989, als der EGMR erstmals direkt mit dieser Frage konfrontiert war. Der damalige Fall – der Soering-Fall – betraf ein sehr schweres Verbrechen. Dem Gesuchsteller hätte bei seiner Auslieferung in die USA die Todesstrafe gedroht. Das Warten auf die Hinrichtung käme einer grausamen und unmenschlichen Behandlung gleich, befand der Gerichtshof, deshalb würde schon jener Staat, der Soering in die USA ausliefern würde, die Konvention verletzen. In der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung zeigte sich ein wiederkehrendes Muster ist: Fast immer, wenn der Gerichtshof eine Bestätigung und Bestärkung des damals anerkannten Refoulement-Verbotes unternahm, geschah dies im Kontext eines schweren Verbrechens, im Kontext von Terrorismus oder im Kontext irregulärer Migration. Der Gerichtshof war sich jeweils bewusst – und hat das in einigen Fällen ganz explizit so formuliert – dass Staaten in diesen Fällen in für sie enorm schwierigen und heiklen Situationen stecken. Aber der Gerichtshof war in diesen Fällen jeweils mit zwei Fragen konfrontiert: 1.) Wenn legitime Staatsgewalt Folter, grausame oder unmenschliche Behandlung in Kauf nimmt, um aus einer Krise herauszukommen, hat sie dann nicht genau das zerstört, was sie zu schützen vorgab? 2.) Wenn es Fälle gibt, in denen grausame oder unmenschliche Behandlung in Ordnung ist, kriegt man dann den Geist je wieder zurück in die Flasche? Wird es bei diesen Ausnahmen bleiben können oder entwickeln auch die Ausnahmen eine eigene Dynamik?

Trotz dem enormen Druck, dem der Gerichtshof jeweils ausgesetzt war, entschied er in jedem Fall erneut, dass es keine Möglichkeit gebe, vom absoluten Verbot des Refoulement abzuweichen. Man kann daher durchaus anderer Ansicht sein als der Gerichtshof. Aber abgesehen davon, dass man dann eine gute Antwort haben müsste auf die beiden obigen Fragen, geht die Kritik, das Verbot sei veraltet, fehl, denn es ist ein relativ junges, regelmässig neu erprobtes und neu bestätigtes Verbot.

Das Hauptproblem am Ruanda-Paradigma ist politisch

Bei aller Gewichtigkeit dieser juristischen Einwände gegen eine Auslagerung von Asylverfahren an Drittstaaten ist die Ironie, dass diese Politik letztlich – wie die asylpolitischen Ideen, die vor ihr kamen und gingen – nicht an juristischen, sondern an praktisch-politischen Problemen scheitern wird oder jedenfalls auch an diesen scheitern würde, wenn sie nicht zuvor an juristischen Problemen gescheitert wäre. Das Problem am Ruanda-Paradigma ist – wie bei den vorangegangenen Paradigmen – dass es systematisch gegen die Interessen derjenigen durchgesetzt werden muss, die von dieser Politik vor allem betroffen sind, dass es sich aber nicht beliebig gegen diese Interessen durchsetzen lässt. Im Falle der Ruanda-Idee sind es sogar zwei Akteure, deren Interessen ignoriert werden müssen, um glauben zu können, diese Politik werde funktionieren. Das eine sind die Schutzsuchenden, das andere sind die Drittstaaten, in die erstere verfrachtet werden sollen. Es sind dieselben Politiker:innen, die glauben, irregulär einreisende Asylsuchende seien eine existentielle Bedrohung für ihr Land, welche auch glauben, für andere Länder sei es in Ordnung, diese angeblich existentielle Bedrohung auf sich zu nehmen, wenn man sie nur dafür bezahle. Deren angebliche existentielle Gefährdung hat also – im Gegensatz zu der eigenen – einen Preis. Es liegt eine ungeheure Herrenmenschen-Mentalität und Kolonialherrenarroganz in der Annahme, andere wären für Geld bereit, auf sich zu nehmen, was man selber um keinen Preis auf sich zu nehmen bereit ist. Zu der angeblichen existentiellen Gefährdung durch die irregulär einreisenden asylsuchenden Flüchtlinge käme in diesen Ländern dann noch die Erniedrigung hinzu, für Geld etwas zu tun, was andere als eine existentielle Bedrohung empfinden.

Masse Mensch

Zu einer derartigen Arroganz kann nur fähig sein, wer nicht nur Asylsuchende als amorphe Masse ansieht, sondern auch die Staaten, in die man sie abschieben möchte. Um glauben zu können, das funktioniere, muss man diese Staaten als einen Monoblock mit einem einzigen Autokraten als Ansprechpartner ansehen, nicht als eine komplexe Gesellschaft, zusammengesetzt aus verschiedenen Individuen und Interessensgruppen. Wenn man diesen Autokraten mit Geld über den Tisch gezogen hat, so die Logik, hat man das ganze Land über den Tisch gezogen. Die Populisten und Opportunisten, die diese Politik vertreten, sind nicht einmal in der Lage, sich ihre eigenen Pendants im Zielstaat vorzustellen – die dortigen Populisten und Opportunisten, die aus der Übernahme von Asylsuchenden und der Erniedrigung, die mit dieser Übernahme verbunden ist, politischen Profit für sich selber schlagen.

Besonders unwahrscheinlich: Ein Rechtsstaat als Deponie für Asylsuchende

Der Grund, warum die Ruanda-Politik des Vereinigten Königreichs das Refoulement-Verbot verletzt hätte, ist, dass Ruanda kein Rechtsstaat ist, der Gewähr bieten könnte für zuverlässige Asylverfahren. Die Gefahr hätte daher bestanden, dass Asylsuchende von Ruanda in Staaten weiter geschickt worden wären, in denen ihnen eine grausame oder unmenschliche Behandlung gedroht hätte. Damit die Ruanda-Politik rechtlich funktionieren könnte, müsste man Staaten finden, die zwar bereit wären, sich als Deponie für die angeblich bedrohlichen Asylsuchenden zu prostituieren, die aber gleichzeitig auch Rechtsstaaten mit einem funktionierenden Asylsystem wären. Aber wenn es schon sehr unwahrscheinlich ist, eine Autokratie zu finden, die sich nachhaltig auf diesen für sie erniedrigenden Deal einlässt, dann ist es noch viel unwahrscheinlicher, dass sich ein Rechtsstaat finden lässt, der sich darauf einlässt. Dies, weil die Möglichkeit einer freien politischen Opposition eine Voraussetzung ist für einen Rechtsstaat. Wo es aber eine Opposition gibt, wird diese der Erniedrigung mit Verve entgegentreten, welche die Regierung ihrem Land zufügt.

Praxistest bisher: wenig ermutigend

Es ist darum wenig erstaunlich, dass die Ruanda-Politik noch nie über eine nennenswerte Zeitspanne funktioniert hat. Das Abkommen zwischen Italien und Albanien ist nur erklärbar, weil Albanien EU-Mitglied werden möchte. Es stösst schon vor seiner Implementierung auf Widerstand in beiden Ländern. Israel konnte eine Zeit lang Asylsuchende nach Ruanda (und Uganda) abschieben, aber eben nur für eine kurze Zeit. Dänemark war mit Ruanda in Verhandlungen, die aber nie zu einem Ergebnis geführt haben. Grossbritannien hatte nie ein Abkommen mit Ruanda, nur ein nicht bindendes Memorandum of Understanding. Ausser Ruanda und Uganda hat sich noch kein afrikanischer Staat zu einer solchen Politik bereit erklärt. Die Afrikanische Union hat diese Politiken in deutlichen Worten verurteilt. Als die Schweiz bereits 2003 versucht hatte, ein ähnliches (aber weniger weitgehendes) Abkommen mit dem Senegal zu verhandeln, ist es am Widerstand der dortigen öffentlichen Meinung und des Parlaments gescheitert. Im Wesentlichen ist die Ruanda-Politik daher ein Zeugnis für die Unfähigkeit, sich in die Rolle Anderer hineinzudenken – nur schon in die Rolle des jeweiligen Pendants im anderen Land.

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass diese Abschiebungspolitik in einem ernsthaften Ausmass und für eine gewisse Zeit funktionieren würde, stiege dadurch nicht die Freiheit des sendenden Staates, sondern seine Abhängigkeit vom aufnehmenden Staat. Wer sich rühmen kann, ein vermeintliches Asylproblem durch Überwälzung auf einen Drittstaat gelöst zu haben, wird politisch abhängig von diesem Drittstaat und daher sehr verletzlich gegenüber zusätzlichen Forderungen dieses Staates, ob nach Geld oder nach anderen Gegenleistungen. Wenn das eigene politische Überleben von höheren Beträgen an diese Staaten abhängt, wird man es fast nicht verhindern können, diese zu zahlen. Im EU-Türkei-Deal hat die Türkei diese Abhängigkeit recht kaltschnäuzig zu ihren Gunsten ausgenutzt.

Fazit: Bitte überspringen

Insgesamt sind also nicht nur die juristischen, sondern besonders auch die praktischen Probleme einer solchen Auslagerung so fundamental und so systemisch, dass ihr Scheitern völlig absehbar ist. Dieses Paradigma auszuprobieren ist daher nicht nur eine Verletzung von Verfassungs- und von Völkerrecht. Es ist auch nicht nur arrogant. Es ist Zeitverschwendung. Klüger wäre es, dieses Paradigma zu überspringen, und direkt zum nächsten zu gehen. Zum Beispiel zu dem Paradigma, dass es legale Migrationswege braucht, wenn man die Kontrolle über Flüchtlingsbewegungen zurückgewinnen möchte. Die Interessen der Betroffenen mit einzubeziehen und ihnen gewisse Möglichkeiten zu geben ist zwar nicht eine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung dafür, ein gewisses Mass an Steuerungsmacht über Migration zu erlangen.

Dr. iur. Stefan Schlegel ist SNF-Ambizione Stipendiant am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bern und Vorstandsmitglied von Unser Recht.  Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Eigentum im öffentlichen Recht, das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht und das Migrationsrecht. 

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