Am 10. Dezember 2023 ist Mark E. Villiger, Völkerrechtsprofessor und ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, überraschend verstorben. Er war ein langjähriges, engagiertes Mitglied von „Unser Recht“ und hat mehrere Artikel bei uns publiziert.

Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Staatsphilosophie sowie geschäftsführender Leiter des Instituts für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, hat die folgende Würdigung für “Unser Recht” verfasst.

 

Zum Tod von Mark E. Villiger – eine persönliche Erinnerung

Oliver Diggelmann

Im Frühjahr 2006 stand in Strassburg die Neuwahl des liechtensteinischen Richters am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Es ging um die Nachfolge von Lucius Caflisch. Dieser war Schweizer und ein hochangesehenes Mitglied, und das kleine Fürstentum hatte sich in der Vergangenheit immer wieder auch jenseits der Landesgrenze nach geeigneten Kandidaten umgesehen. Im juristischen Staff des Gerichts ging das Gerücht um, einer der ihren, ein langjähriger Gerichtsmitarbeiter, gehöre zu den für die Wahl Nominierten. Ich war für ein halbes Jahr Teil dieses Staffs, wusste aber nicht, dass es sich um Mark Villiger handelte. Offensichtlich war, dass sich alle uneingeschränkt freuten, ihren Bekannten möglicherweise bald zum Vorgesetzten zu bekommen. Die Hoffnung war spürbar, dass er sein Berufsleben im Dienst von Völkerrecht und Menschenrechten mit der Wahl in das hohe Amt würde krönen können. Er schaffte die Wahl gut. Ich sprach in den kommenden Wochen verschiedentlich mit ihm, und mir fiel auf, dass keine Spur von jenem prallen Selbstbewusstsein an ihm haftete, das vielen nach beruflichen Grosserfolgen ins Gesicht geschrieben steht. Ich bemerkte eine verhaltene, innerliche Freude und grosse Dankbarkeit des damals 56-Jährigen. Auch ein Stück Demut, wie sie bei Menschen anzutreffen ist, denen das Leben nicht Gelegenheit gab, sich an Rückenwind zu gewöhnen.

Die Wahl in das hohe Richteramt war die späte und brillante Krönung einer nicht nur geraden Karriere. Mark Villiger hat seine Laufbahn nicht strategisch geplant. Er änderte den Kurs, wenn sich seine Interessen verschoben. Aus einer Ingenieursfamilie stammend und 1950 geboren, studierte er nach einer Kindheit und Jugend in Südafrika sowie in Österreich in Zürich Rechtswissenschaft. Er doktorierte mit einer Arbeit im Zivilprozessrecht bei Hans-Ulrich Walder. Es zog ihn aber bald ins Völkerrecht, wo seine Weltläufigkeit gut aufgehoben war; er wurde Assistent bei Dietrich Schindler und verfasste eine vielbeachtete und mehrfach aufgelegte Habilitationsschrift zum Thema «Völkergewohnheitsrecht und Verträge». Während der Ausarbeitung lebte er zwei Jahre mit seiner Familie am Robinson College in Cambridge, wo er, wie er mir einmal anvertraute, die schönste Zeit seines Lebens verbrachte. Er kam ins Schwärmen, wenn die Rede auf diese Jahre und die Spaziergänge im Umland des Städtchens kam.

1985 wurde er Privatdozent für Völker- und Europarecht an der Universität Zürich und ein paar Jahre später Titularprofessor. Eine Wahl auf einen Lehrstuhl in der Deutschschweiz, mit der er auch über seine in Zürich lebende Mutter eng verbunden war, war mit seinem internationalen Profil schwer möglich, da Völkerrecht damals stets in Ergänzung zu Staats- und Verwaltungsrecht gelehrt und Lehrstühle entsprechend ausgeschrieben wurden. Mark Villiger ging nach Strassburg. Er arbeitete bis zu seiner Wahl als Richter in verschiedenen Funktionen, zuerst für die Europäische Kommission für Menschenrechte und später den Gerichtshof. Über die Zeit hinweg wurde er zum Gedächtnis des EGMR und selbst eine Institution. Er wurde konsultiert, wenn es wirklich schwierig wurde, und hatte ein sicheres Gespür für Langzeitentwicklungen und das Mögliche. Neben seiner Tätigkeit in Strassburg lehrte er während rund dreissig Jahren an der Universität Zürich und anderen Institutionen. Von seinen zahlreichen Schriften ist sein «Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention» ein Standardwerk geworden. Es wurde in drei Auflagen gedruckt. Sein letztes grosses Werk ist ein «Handbuch der schweizerischen Neutralität», das erst vor wenigen Monaten erschienen ist. Das Genre der Handbücher liege ihm, sagte er mir während der Neutralitätsdebatte nach Ausbruch des Ukrainekrieges. Er nahm den Rechtstext ernst und stand allzu kreativer Interpretation distanziert gegenüber.

Ich hatte das Glück, mit Mark Villiger verschiedentlich Seminare zum Menschenrechtsschutz durchführen zu dürfen. Für die Studentinnen und Studenten war er ein ebenso anspruchsvoller wie wohlwollender und sorgfältiger Seminarleiter, mit dem es leicht war, persönlich zu harmonieren. Er gab dem jüngeren Kollegen Raum, wo er ihn mit besserem Recht hätte beanspruchen können, und er besass die Gabe, andere gelten lassen zu können. Wann immer in den Seminaren anspruchsvolle Fragen zum EGMR auftauchten, auf die niemand eine Antwort wusste, wanderten die Blicke automatisch zu Mark Villiger hinüber, oder genauer: zu ihm hoch. Er war ein grosser, imposanter Mann mit tiefer Stimme und Präsenz, der Autorität und Ernsthaftigkeit ausstrahlte. Wer ihn kannte, wusste um die Empfindsamkeit unter der Respekt gebietenden Oberfläche.

Mark E. Villiger ist am 10. Dezember 2023 verstorben. Er hinterlässt seine Frau Bernadette und seine beiden erwachsenen Kinder Patrick und Catherine.

 

 

Print Friendly, PDF & Email