Was wäre die Reaktion der Ungeimpften, wenn die Schweiz eine Impfpflicht mit Bezug auf Covid-19 erliesse? Würde sich der Widerstand verhärten und die MassnahmengegnerInnen sich weiter radikalisieren? Würde das Nicht-Bezahlen einer allfälligen Busse zu einem heldenhaften Akt der Résistance gegen ein vermeintliches Unrechtsregime?

Es gibt auch eine positivere Erzählung: Viele Ungeimpfte sind heute in ihrer Impfverweigerung gefangen. Sie würden das Gesicht verlieren gegenüber ihrem Umfeld, wenn Sie sich umentschieden und impfen liessen, sei es wegen politischen und öffentlichem Druck oder aus eigener Einsicht. Eine Impfpflicht könnte ihnen einen argumentativen Ausweg bieten: «Ich bin zwar weiterhin dagegen, aber wenn ich muss, dann lass ich mich halt impfen.» Diesen Gedanken hat der Sozialökonom Andreas Speit kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung geäussert:

«Mit Regeln wie 2G legt der Staat die Verantwortung ins Private. Mit der Impfpflicht würde die Politik die Verantwortung übernehmen. Die Menschen könnten dann auf den Staat schimpfen statt aufeinander.»

Das Gespräch wurde von Sarah Schmalz geführt. Hier die vollständige Passage im ausführlichen Interview (erschienen am 6. Januar 2022):

Speit: «Die Gesprächsangebote an die Querdenker:innen haben sie nicht moderater werden lassen. Vielmehr fühlen sie sich ermutigt und treten immer noch ein Stück aggressiver auf. Diese Diskussion führen wir ja auch im Kontext des Rechtsextremismus und der intellektuellen Rechten immer wieder. Wir müssen den Mut haben, zu sagen: «Halt, stopp, bis hier und nicht weiter.» Ganz banal müsste man zum Beispiel Kundgebungsverbote oder die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr auch durchsetzen. Und wir müssen über eine Impfpflicht streiten.»

Schmalz (woz): «Sie plädieren für eine Impfpflicht? Viele Ethiker:innen halten eine solche für falsch. Sie betonen, dass damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt würde.»

Speit: «Die Schwierigkeit ist, dass sich beim Impfen einzelne Personen das Recht herausnehmen zu sagen: Ich möchte das individuell für mich nicht. Aber die individuelle Entscheidung hat kollektive Auswirkungen – von der Verbreitung des Virus bis zur Inbeschlagnahme der medizinischen Ressourcen. Ich finde es deswegen legitim zu sagen: In einer solchen Pandemie müssen solche individuellen Rechte vielleicht weniger gewichtet werden, damit die Rechte des Schutzes aller zum Tragen kommen können.»

Schmalz (woz): «Liegt das Hauptproblem nicht ohnehin in einem Kommunikationsversagen der Regierungen? Zumindest in der Schweiz war man zu Beginn der Impfkampagne äusserst zurückhaltend. Man betonte fortlaufend, das Impfen sei eine freie Entscheidung, sprach anfangs nur für ältere Menschen und Risikogruppen eine klare Empfehlung aus, erklärte eine Impfpflicht zum absoluten Tabu. Bestärkt dies Skeptiker:innen nicht in ihrer Haltung?»

Speit: «Man muss schon deutlich sagen: Wir haben so eine Pandemie noch nie erlebt. Es ist klar, dass dann auch mal Sätze fallen, bei denen man sich im Nachhinein denkt: Das war nicht so klug. Ich glaube, dass es ein sehr unglücklicher Moment war, rote Linien zu formulieren, obwohl man überhaupt nicht wusste, wie die Pandemie verlaufen würde. Man hat sich damit eine schlechte Ausgangslage geschaffen, um auf eine hohe Impfquote hinzuwirken. Heute stehen wir ausserdem vor dem Dilemma, dass sich schlechter auf eine Impfpflicht pochen lässt, weil das Versprechen «Einmal durchimpfen, dann haben wir unser altes Leben wieder» epidemiologisch nicht haltbar ist. Dennoch bleibt die Impfung einer der wesentlichen Faktoren im Kampf gegen das Virus. Mit Regeln wie 2G legt der Staat die Verantwortung ins Private. Mit der Impfpflicht würde die Politik die Verantwortung übernehmen. Die Menschen könnten dann auf den Staat schimpfen statt aufeinander.»

Schmalz (woz): « Wäre eine Impfpflicht vielleicht sogar ein Ausweg für viele, die sich verrannt haben? Selbst wer die Meinung ändert, traut sich ja kaum, das in einem impfskeptischen Umfeld zuzugeben.»

Speit: «Ich muss da gerade an einen Radiobeitrag des Deutschlandfunks denken. Es ging um irgendein Tal in der Schweiz, wo kein Mensch geimpft ist. Der Bürgermeister sagte am Ende des Beitrags, dass es wohl das Beste wäre, das Impfen in der Gegend einfach zu verbieten. Weil die Leute immer gegen das seien, was von oben komme. Das fand ich auch einen sehr charmanten Gedanken. …»

 

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Bild: Marco Verch Professional Photographer, Flickr, Lizenz CC BY 2.0.

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