von Dr. iur. Dominik Elser, Geschäftsleiter des Vereins «Unser Recht»

Vor einigen Wochen haben wir an dieser Stelle in einem ausführlichen Beitrag die rechtsstaatlichen Eckpunkte für die Diskussion über ein Impfobligatorium wegen Covid-19 in der Schweiz aufgezeigt. Nach zahlreichen Rückmeldungen zu diesem Beitrag ist es angebracht, die darin geschilderte rechtliche Ausgangslage um zwei Aspekte zu ergänzen.

(1) Die gesetzliche Ausgangslage nach dem geltenden Epidemiengesetz in der ausserordentlichen Lage.

(2) Und die verfassungsrechtlich zulässigen Fälle der zwangsweisen Verabreichung von Arzneien.

Befugnisse in der ausserordentlichen Lage nach EpG

Das Epidemiengesetz sieht an zwei Stellen die Befugnis vor, Impfungen für gewisse Bevölkerungs- oder Berufsgruppen für obligatorisch zu erklären: Die Kantone dürfen diese in jeder epidemiologischen Lage (Art. 22 EpG), während der Bundesrat dies in der besonderen Lage darf (Art. 6 Abs. 2 Bst. d. EpG). Bedeutet das, dass jede allgemeinverbindliche Impfpflicht zwingend einer Änderung des Epidemiengesetzes bedarf, wie dies der vorherige Beitrag festhielt?

Nein, denn: «Wenn es eine ausserordentliche Lage erfordert, kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen.» (Art. 7 EpG)  Die Botschaft des Bundesrats zum Epidemiengesetz sagt, diese Bestimmung «wiederholt auf Gesetzesstufe die verfassungsmässige Kompetenz des Bundesrates gemäss Art. 185 Abs. 3 BV, in ausserordentlichen Situationen ohne Grundlage in einem Bundesgesetz Polizeinotverordnungsrecht zu erlassen.» (BBl 2011 311, 365) Das Gesetz doppelt also nach, dass der Bundesrat schon gestützt auf die Verfassung in Notlagen Anordnungen treffen darf, die nicht im Einzelnen vorgesehen sind. Bezogen auf Epidemien führt die Botschaft zum EpG weiter aus: «Im Bereich der übertragbaren Krankheiten ist auch in Zukunft mit unvorhersehbaren, akuten schweren Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit zu rechnen, für die das Gesetz keine spezifische Regelung bereit hält. […] Das konstitutionelle Notstandsrecht erlaubt es dem Bundesrat […] die adäquaten Massnahmen rasch und fallspezifisch anzuordnen.» (BBl 2011 311, 366)

Im Klartext bedeutet dies: Sollte eine epidemiologische Notlage eine allgemeine Impfpflicht erfordern, darf der Bundesrat diese bereits nach geltendem Recht anordnen. Er dürfte dies ohnehin gestützt auf das Notverordnungsrecht der Verfassung, das Epidemiengesetz wiederholt diese Befugnis nochmals spezifisch für Pandemien.

Die Impfpflicht ist also keine Frage des (rechtlichen) Dürfens sondern des (politischen) Wollens. Damit verbunden ist die Frage, ob der Bundesrat die ausserordentliche Lage per 19. Juni 2020 aufheben musste, oder ob er ohne Zwang einen Teil seiner Kompetenzen aus politischen Überlegungen aufgab. Es scheint immerhin nicht von der Hand zu weisen, dass eine ausserordentliche Lage angenommen werden kann, soweit Intensivstationen aufgrund der Pandemie überlastet sind.

So oder so ist festzustellen, dass der Bundesrat im Rahmen des geltenden Rechts Möglichkeiten hätte, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen, sofern und soweit es die pandemische Lage erfordert. Die auf bestimmte Bevölkerungs- und Berufsgruppen eingeschränkten Befugnisse des Epidemiengesetzes in der normalen und der besonderen Lage stehen dem in keiner Weise entgegen.

Sogar Zwangsmedikation kann zulässig sein

An einer anderen Stelle war der ursprüngliche Beitrag schlicht falsch. Ich hatte geschrieben: «Die zwangsweise und gewaltsame Verabreichung einer Arznei gegen den ausdrücklichen Willen ist wohl eine Massnahme, von der eine freiheitliche Staatsordnung unter allen Umständen absehen sollte.» Das ist offensichtlich unvollständig, wie die ausführliche Rechtsprechung zur sogenannten Zwangsmedikation zeigt: Im Berner Zwangsmedikationsfall hiess das Bundesgericht eine medizinische Zwangsbehandlung gar trotz fehlender Rechtsgrundlage gut, gestützt auf die polizeiliche Generalklausel (BGE 126 I 112). Im Basler Zwangsmedikationsfall war die Verabreichung von Neuroleptika – teils gegen den Willen des Patienten – gestützt auf ein kantonales Psychiatriegesetz zulässig (BGE 127 I 6).

Was bedeutet das für die rechtsstaatlichen Überlegungen bezüglich der Impfpflicht? In einem Rechtsstaat kann sogar die zwangsweise Verabreichung von Arzneien zulässig sein. Mehr noch, sie kann wegen der staatlichen Schutzpflicht in besonderen Rechtsverhältnissen geradezu geboten sein. Wenn also Zwangsmedikation unter besonderen Umständen verfassungsrechtlich zulässig ist, kann ein Impfobligatorium nicht generell verfassungswidrig sein. Gewiss, die besonderen Umstände der Zwangsmedikationsfälle liegen bei der Covid-19-Pandemie nicht vor. Dennoch zeigen sie auf, dass auch die Frage der Impfpflicht im Detail betrachtet werden muss und nicht kategorisch als rechtsstaatlich unzulässig abgestempelt werden darf.

 

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Bild: Marco Verch Professional Photographer, Flickr, Lizenz CC BY 2.0.

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