Dieser Text ist erstmals als Editorial im Schweizerischen Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht erschienen (ZBl 1/2022, S. 1–2). «Unser Recht» veröffentlicht den Beitrag hier mit dem Einverständnis des Autors, Prof. Dr. iur. Markus Müller, Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht sowie öffentliches Verfahrensrecht an der Universität Bern.

Von Freiheit, Überforderung und Bumerangen

Sollte dereinst die Covid-Krise überstanden sein, werden wir – entgegen vielen anderslautenden Prognosen – rasch wieder zu alten Gewohnheiten zurückkehren, zu guten wie zu schlechten. Die Stabilität neuronaler Schaltkreise im Gehirn erschwert uns bekanntlich das Umlernen. Die eine oder andere Sitzung wird möglicherweise auch künftig digital stattfinden. Aber sonst?

Es wäre nun freilich fatal, wenn die Lernblockade sich auch auf unsere Rechtsordnung und Rechtskultur erstrecken würde, wir mit anderen Worten die Gelegenheit vorbeiziehen liessen, die in der Pandemie zutage getretenen Systemschwächen anzugehen. Eine Schwäche entpuppt sich dabei als besonders folgenreich: das Freiheitsverständnis.

Freiheit – keinem anderen Begriff haben sich in der Geschichte der Menschheit die Denkerinnen und Denker mit vergleichbarer Inbrunst angenommen. Ganze Bücherwände zeugen davon und aus aktuellem Anlass ist die Freiheit auch in den Print- und sozialen Medien ein ausgesprochen beliebtes Thema. Man möchte meinen, was Freiheit ist, sei mittlerweile klar und weithin unbestritten. Wer sich nun allerdings hinaus in die Arena der öffentlichen (Corona-)Debatten begibt, wird alsbald Zeuge eines erbitterten Streits um das «richtige» Freiheitsverständnis. Gemeint: das Freiheitsverständnis der Verfassung.

Der Bundesrat ging in seinem Verfassungsentwurf (1996) erklärtermassen vom klassischen Verfassungs- und Freiheitsverständnis des vorletzten Jahrhunderts aus. Diesem liegt das Bild des «selbstbestimmten und eigenverantwortlichen» Menschen zugrunde. Um diese Eigenschaften zu entfalten, ist der Mensch auf Freiheiten angewiesen. Freiheiten, die ihm der Staat denn auch zu schützen verspricht, nicht absolut, aber doch möglichst weitgehend. Eine verpflichtende solidarische Mitverantwortung eines jeden Freiheitsträgers für die Freiheiten der andern fand indes keinen Eingang in den Verfassungstext. Der Bundesrat befürchtete, Bürgerinnen und Bürger zu überfordern, wenn man sie «zu direkten Erfüllungsgehilfen des Gemeinwohls» verpflichten würde (AB 1998 SD N 144). Diese fürsorgliche Schonhaltung prägte die parlamentarische Debatte zu Art. 6 BV («Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung»), dem nach vorherrschender Auffassung lediglich Appellcharakter zukommen soll.

Dieses individuumszentrierte Freiheitsverständnis hat sich über die Jahre zum Bumerang entwickelt. In der Covid-Krise hat er, für alle hör-, spür- und sichtbar, gnadenlos «zurückgeschlagen». Die zu Beginn der Pandemie von einigen gehegte Hoffnung, Corona könnte die Solidarität in der Gesellschaft stärken, ist bereits nach wenigen Monaten jäh zerplatzt. Jüngst hat ein Medizinhistoriker mit Blick auf die schleppende Impfbereitschaft kritisch bemerkt, dass es wenig geschickt war, in einer Zeit «extremer Individualisierung» die Impfung «primär als einen Akt der Solidarität zu verkaufen» (Flurin Condrau). Wo über Jahrzehnte unaufhaltsam und auf allen Kanälen ein verfassungsrechtliches Freiheitsverständnis verkündet wurde, das die Bürgerinnen und Bürger mit einem ganzen Bündel von Grundrechten bedenkt, ihnen aber kaum Grundpflichten auferlegt, ist es nicht verwunderlich, wenn für viele Solidarität maximal ein «Nice-to-give» ist.

Die Freiheitsdiskussion rund um Corona wird (hoffentlich) ein baldiges natürliches Ablaufdatum haben. Schon morgen dürfte sich uns aber aufgrund der Klimakrise die Freiheitsfrage mit genau derselben Dringlichkeit stellen. Wir tun gut daran, bis dahin unseren Gesellschaftsvertrag in Bezug auf Freiheitsverständnis und Menschenbild zu überdenken und gegebenenfalls neu auszuhandeln. Die Bevölkerung auf die luziden Erkenntnisse der alten Freiheitsphilosophen hinzuweisen, wird die Kontroverse kaum beruhigen, ebenso wenig der Verweis auf «Appelle» zugunsten eines gemeinwohlorientierten Freiheitsverständnisses, wie sie durchaus bereits heute in der Verfassung zu finden sind (z.B. Präambel, Art. 6 BV). Es braucht mehr Klartext und eine breit angelegte demokratische Grundsatzdebatte, allseits geführt in «leichter Sprache».

Im Hinblick darauf erscheint es unumgänglich, sich zunächst nüchtern und schonungslos mit der Psychostruktur des Menschen und Freiheitsträgers vertraut zu machen. Dabei wird rasch klar, dass die einst gegen die Mächtigen gerichteten Imperative der Aufklärung: Selbstbestimmtheit, Eigenverantwortung und Vernünftigkeit, weder damals noch heute zur Wesensbeschreibung der menschlichen Spezies taugen. Diese fällt um einiges weniger schmeichelhaft aus. Nimmt man sich selber nicht aus, darf man dafür – wie jüngst der Klimaforscher Reto Knutti – auch unmissverständliche Worte gebrauchen: «Der Mensch ist ein bisschen dumm, faul, kurzsichtig und egoistisch.» Immerhin nur «ein bisschen». Politik und Rechtswissenschaft wären gut beraten, dieses «Bisschen» ernster zu nehmen. Andernfalls drohen sie Recht und Rechtsstaat auf sandigen Grund zu bauen.

Vor dem Hintergrund eines solcherart revidierten Menschenbilds ist Freiheit nicht deskriptiv, sondern normativ zu verstehen. Sie ist nichts abstrakt Vorgegebenes, sondern etwas sozial Gemachtes, ein dynamisches Produkt gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Als das bedeutet sie Nehmen und Geben, Anspruch und Verzicht, Erlaubnis und Verbot. Anders gewendet: Um Freiheit zu verwirklichen, braucht es sämtliche gesellschaftlichen Akteure, auch die einzelnen Freiheitsträgerinnen und -träger. Sie werden dadurch zwar gefordert, hoffentlich aber nicht überfordert. Soviel an «positivem» Menschenbild darf sein.

Diese der Freiheit innewohnende Mitverantwortung muss der Bevölkerung bewusster gemacht werden. Und zwar nicht (nur) als wünschbare Tugend, sondern als Pflicht, die explizit in der Verfassung zu verankern ist. Einen Platzhalter hierfür gibt es bereits: Art. 6 BV. Diese «Appellnorm» gehört neu formuliert, ist deutlicher in Bezug zu den Grundrechten zu setzen und – vor allem – mit normativer Kraft zu versehen. Selbstverständlich wäre es naiv zu glauben, dass sich damit Mensch und Kultur von heute auf morgen verändern. Die Symbolkraft und die gesellschaftspsychologische Wirkung einer verfassungsrechtlichen Bürgerpflicht und ihres Entstehungsprozesses sollte man aber nicht unterschätzen, sondern nutzen, um ein Umdenken und einen Kulturwandel zu erwirken.

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