Versuch einer Erklärung, Rechtfertigung und Veranschaulichung

Von Reto Walther

I. Einleitung

Kontext

Das Völkerrecht, der Multilateralismus und zwischenstaatliche Institutionen stehen seit einigen Jahren vermehrt in der Kritik. In Europa haben das System der Europäischen Menschenrechts­konvention («EMRK», «Konvention») und insbesondere die Institution des Europäischen Ge­richtshofs für Menschenrechte («EGMR», «Gerichtshof») noch nie da gewesenen Widerstand er­fahren. Die Kritik am und der politische Widerstand gegen das EMRK-System stellen allerdings lediglich ein Beispiel eines grösseren, globalen Phänomens dar:  liefert daher Einsichten, die sinnge­mäss auf weitere gerichtlich abgesicherte, internationale Teilrechtsordnungen übertragen wer­den können.

Hintergrund und Relevanz

Der Widerstand gegen Europas Menschenrechtsschutzsystem kulminierte im Jahr 2013 an der «Brighton Konferenz» im formellen Beschluss der Mitgliedstaaten, das 15. Änderungsprotokoll zur EMRK anzunehmen. Nach diesem Beschluss betont die Präambel der EMRK, dass dem EGMR gegenüber den Behörden seiner 46 Mitgliedstaaten eine lediglich subsidiäre Rolle zukommen soll. Protokoll Nr. 15 ist im August 2021 in Kraft getreten.

Auf den ersten Blick handelt es sich bei dieser Konventionsänderung bloss um eine Änderung der Erwägungsgründe, die die inhaltlichen Bestimmungen der Konvention einleiten. Eine ge­nauere Betrachtung zeigt jedoch, dass hier ein symbolträchtiger Schritt unternommen wurde. Präambeln völkerrechtlicher Verträge werden nicht leichthin und nur selten modifiziert. Proto­koll Nr. 15 markiert einen Meilenstein in der rund 70-jährigen Geschichte des EMRK-Systems. Nie zuvor hatten die Staaten die EMRK in einer den EGMR hemmenden Richtung fortentwickelt. Die Wirkung des 15. Änderungsprotokolls liess denn auch nicht lang auf sich warten – der EGMR reagierte gewissermassen mit vorauseilendem Gehorsam: Seine richterliche Zurückhaltung nahm in Reaktion auf das durch die Mitgliedstaaten ausgesandte Signal tendenziell zu.

Forschungsansatz und Fragestellung

Der Grundsatzentscheid, auf den sich die Mitgliedstaaten im Rahmen von Protokoll Nr. 15 ei­nigten, kann und darf nicht einfach als Verirrung nationalistischer Politik abgetan werden. Schon rein formal-juristisch ist die Subsidiarität des EGMR nunmehr ein geltender Grundsatz des völkerrechtlich verbindlichen Konventionsrechts, womit es eine Aufgabe der Rechtswissen­schaften ist, sich unbeachtlich persönlicher politischer Anschauungen damit auseinanderzu­setzen. Zudem gibt es überzeugende normative (wertungsmässige) Gründe für die Subsidiarität des EGMR. Sie liegen im Wert der politischen Gleichheit aller Mitglieder einer politischen Ge­meinschaft – in dem Wert also, welcher der Demokratie verstanden als politisches System, in dem die Meinungen aller Teilnehmenden gleich zählen, unterliegt. Als Demokrat oder Demo­kratin gilt es selbst dann Grenzen der richterlichen Macht des Strassburger Gerichtshofs zu ak­zeptieren, wenn man die vom EGMR präferierte Leseart und Fortentwicklung der Konventions­rechte grundsätzlich befürwortet. Schliesslich sollte es für alle, die dem Konventionssystem po­sitiv gesinnt sind, ein Gebot der politischen Klugheit sein, das Prinzip der Subsidiarität des EGMR weder zu negieren noch zu ignorieren. Wenn nur ein subsidiärer EGMR politisch mehrheitsfähig ist und die breite politische Unterstützung der Staaten geniesst, dann sollte der EGMR subsidiär sein. Die Binsenwahrheit, dass weniger manchmal mehr ist, gilt auch hier: Ein subsidiärer, dafür breit ak­zeptierter EGMR dürfte einem nominell mächtigen EGMR, dem aber der notwendige politische Rückhalt fehlt, überlegen sein.

Die Rechtswissenschaft muss mithin ganz ohne Scheuklappen auf das Subsidiaritätsprinzip der EMRK blicken und fragen, was die Subsidiarität des EGMR genau bedeutet, welche Implikatio­nen sie hat und wie sie sich erklären sowie rechtfertigen lässt. In der Literatur zur Theorie und Praxis des EMRK-Systems schliesst dieser Ansatz eine Lücke. Das Subsidiaritätsprinzip der EMRK fand im Schrifttum bislang nicht die Beachtung, die es verdient. Entweder wurde es nur ober­flächlich und partiell behandelt oder es wurde als abzulehnende Idee, die es hauptsächlich als irrig darzustellen gilt, aufgefasst.

II. Subsidiaritätsprinzip: Grundlagen

Annäherung

Die Ideen- und Begriffsgeschichte des Subsidiaritätskonzepts ist lang, vielfältig und komplex. Grundsätzlich ist den verschiedenen Konzeptionen des Subsidiaritätsprinzips aber gemein, dass sie der zentralen Ebene aus Gründen des Pluralismus und der lokalen Selbstverwaltung eine nachrangige Rolle zuordnen. Dies legt nahe, dass die Subsidiarität des EGMR mit dem Pluralis­mus der Mitgliedstaaten und ihrer Selbstregierung zu begründen ist.

Tatsächlich soll das Subsidiaritätsprinzip der EMRK die Beantwortung einer Frage anleiten, die sich in unterschiedlichen Formen immer wieder stellt: Wer entscheidet wann, was und wie?

Die einschlägigen Dokumente des Europarats, unter dessen institutionellem Dach das EMRK-System operiert, zeigen Folgendes: Das Subsidiaritätsprinzip soll die Leitidee, wonach dem EGMR und den Mitgliedstaaten eine geteilte Verantwortung für den europäischen Menschen­rechtsschutz zukommt («shared responsibility»), konkretisieren und in ihrer Umsetzung anleiten. Dem Subsidiaritätsprinzip ist daher normativer (regulierender) Gehalt zuzuschreiben. Die rechts­praktische Umsetzung der vom Subsidiaritätsprinzip angeleiteten Verantwortungsteilung zwi­schen dem EGMR und den Mitgliedstaaten erfolgt dann durch diverse Instrumente, denen sich der EGMR in seiner Rechtsprechungspraxis bedient. Anders als es im Schrifttum oft dargestellt wird, ist der nationale Ermessensspielraum – die «margin of appreciation doctrine» – nur eines dieser Instrumente.

Die Frage, wer wann, was und wie entscheidet, erscheint in unterschiedlichen Formen in allen Stadien des Individualbeschwerdeverfahrens vor dem EGMR: sowohl im Hauptverfahren be­ziehungsweise in der Urteilsfindung durch den EGMR als auch im vorgängigen Zulassungsver­fahren sowie im Rahmen der Durchführung («execution») eines Urteils, in dem der EGMR eine Verletzung eines Konventionsrechts festgestellt hat.

Die Frage stellt sich immer dann – aber nur dann –, wenn die Kompetenzen des Gerichtshofs ei­nerseits und der Mitgliedstaaten andererseits überlappen. Beispielsweise ist es die klare Zu­stän­digkeit des EGMR, im Einzelfall zu entscheiden, ob ein Staat ein Konventionsrecht völker­rechts­widrig verletzt hat. Hingegen regelt das Konventionsrecht die Frage, wie sich die staatli­chen Behörden und der EGMR die Deutungshoheit über den Gehalt der Konventionsrechte im All­gemeinen teilen, nicht eindeutig. Nichts sagt die Konvention über die Prüfstrenge (Kontroll­dichte), die der EGMR anzuwenden hat, oder das Ausmass des Ermessensspielraums, den er den Staaten belassen muss. Schliesslich ist teils strittig, welche Rolle der EGMR bei der Wieder­gutmachung und der zukünftigen Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen spielen soll.

Das Subsidiaritätsprinzip der EMRK ordnet die Aufgabenteilung sowohl im Bereich der Bezie­hung des EGMR mit jedem Mitgliedstaat individuell als auch im Bereich seiner Beziehung mit den Mitgliedstaaten kollektiv. Das Kollektiv der Mitgliedstaaten ist trotz seiner Heterogenität ein zentraler Akteur des EMRK-Systems: einerseits als «master of the treaty» mit der alleinigen Kom­petenz, auf dem völkervertraglichen Weg Änderungen am Bestand und Gehalt der Konven­tion und ihrer Zusatzprotokolle vorzunehmen; andererseits als «Ministerkomitee», das zusam­mengesetzt aus je einem hochrangigen diplomatischen Vertreter pro Staat für die internatio­nale Überwachung der innerstaatlichen Umsetzung der EGMR-Urteile zuständig ist.

Stossrichtung

Der Zweck des Subsidiaritätsprinzips der EMRK liegt vermutungsweise darin, dem Pluralismus und der Selbstregierung der Mitgliedstaaten den gebührenden Respekt entgegenzubringen, in­dem es angemessene Antworten auf die Frage gibt, wer wann, was und wie entscheidet. Da­mit konkretisiert es die Rolle des EGMR vis-à-vis den Staaten. Genaueres über die normative Stoss­richtung des Subsidiaritätsprinzips der EMRK lässt sich der Entstehungsgeschichte des 15. Ände­rungsprotokolls, das die Subsidiarität des EGMR in der Konventionspräambel festschrieb, ent­nehmen. Eine vertiefte Betrachtung der Entwicklung, die dazu führte, dass die Staaten die sub­sidiäre Rolle des EGMR in der Konventionspräambel festhielten, bestätigt: Dieser Beschluss sollte die Bedeutung der demokratischen Selbstregierung der heterogenen Mitgliedstaaten ge­gen­über der gemeineuropäischen Rechtsprechung des überstaatlichen Strassburger Ge­richts­hofs betonen.

Historisch betrachtet stellt der mitgliedstaatliche Beschluss, die Subsidiarität des EGMR in der Konventionspräambel hervorzuheben, im Wesentlichen eine Gegenbewegung dar: Über viele Jahrzehnte hatte sich das Machtzentrum des EMRK-Systems von den nationalen politi­schen Akteuren hin zum internationalen gerichtlichen Akteur verschoben, und zwar grossteils auf dessen eigenes Betreiben hin. Die heutige Gestalt des Systems, in dessen Mittelpunkt der EGMR mit seinen charakteristischen Prinzipien und seinem grossen Einfluss auf die staatlichen Ordnungen steht, war massgeblich durch den EGMR beziehungsweis seine Vorgängerinstituti­onen selbst geformt worden. Die Mitgliedstaaten hatten die Fortentwicklungen des Systems oft einfach akzeptiert.

Zu einer Wende kam es ab dem Jahr 2010. In vielen Mitgliedstaaten wurden Stimmen aus der Politik, aber auch aus der Rechtswissenschaft und der Judikative laut, die den EGMR als zu­dringlich kritisierten. Die Kritiker monierten, der EGMR entscheide übertrieben kasuistisch und lasse die gebotene richterliche Zurückhaltung vermissen sowie dass er mit seiner aktivistischen Fortentwicklung der Konventionsrechte unzulässiges «judicial law-making» betreibe und seinen Einflussbereich via eigenes Richterrecht stetig ausweite. Aus dieser Kritik folgte die Forderung, die Rolle des EGMR ge­genüber den Mitgliedstaaten zu justieren und, konkreter, nach einem EGMR, der den Staaten in dem Sinne nachgeordnet sein soll, dass er ihre (politischen) Entschei­dungen angemessen res­pektiert. Ein Kompromiss zwischen einer Staatengruppe, die eine rich­tungsweisende Weichen­stellung im Verfahrensrecht der EMRK wünschte, und einer Staaten­gruppe, die die verfah­rensrechtlich festgelegte Rolle des EGMR unangetastet lassen wollte, führte schliesslich zur kon­ventionsrechtlichen Verankerung des Grundsatzes der Subsidiarität des EGMR.

Navigationshilfe im Spannungsfeld liberaler Rechte und demokratischer Politik

Die Debatte um die angemessene Rolle des EGMR dreht sich im Kern um die Frage der Legiti­mität einer internationalen quasi-verfassungsgerichtlichen Kontrolle nationaler demokratischer Politiken. Darin lassen sich die Gegensatzpaare internationale Kontrolle und staatliche Souve­ränität, gemeineuropäische Standards und nationaler Handlungsspielraum sowie rechteba­sierte gerichtliche Kontrolle und mehrheitsdemokratische Politik erkennen. Das letzte Gegen­satzpaar ist zentral; Erstere sind im Wesentlichen lediglich Vorbedingungen, Ausprägungen und Verschärfungen davon.

Das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Freiheits- und Interessensphären in der Form von Individualrechten und mehrheitsdemokratischen Wertentscheidungen lässt sich in keiner freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung vollständig auflösen. Die Instanz – egal ob politisch oder gerichtlich –, die die Rolle der «Hüterin der Verfassung» übernimmt, wird immer gezwungen sein, eine Gratwanderung zwischen dem Schutz individueller Freiheits- und Interes­sensphären und der Achtung kollektiver Wertentscheidungen zu beschreiten. Dieses Problem – in seiner verfassungsgerichtlichen Ausprägung aus dem angloamerikanischen Sprachraum als «counter-majoritarian difficulty» bekannt – ist im EMRK-System besonders ausgeprägt.

Erstens ist das «judicial law-making» des EGMR sowohl in seiner Quantität als auch in seiner Qualität bemerkenswert. Der EGMR stellt regelmässig Grundsätze auf, die prospektiv und über die Verfahrensparteien hinaus wirken und die umfassende bereichsübergreifende Abwä­gungsentscheide beinhalten. Er hat es sich ermöglicht, in praktische alle, einschliesslich die fun­damentalsten Bereiche der staatlichen Ordnungen hineinzuwirken, so etwa in die innerstaatli­che Gewaltenteilung und Behördenorganisation sowie in das nationale Zivilrecht. Damit stellt er das Rechtsetzungsprimat der mitgliedstaatlichen Gesetz- und Verfassungsgeber infrage.

Zweitens ist die internationale Position des EGMR zu beachten. Sie verschärft das Grundprob­lem aus verschiedenen Gründen, aber insbesondere, weil entwickelte politische Institutionen und öffentliche Diskursräume auf der europäischen Ebene fehlen. Einerseits ist der EGMR anders als nationale Verfassungsgerichte kaum in eine politische Öffentlichkeit eingebettet. Anderer­seits fehlt dem EGMR ein direktes politisches Gegenüber, sodass sich politische Reaktionen auf EGMR-Urteile als schwierig erweisen.

Drittens können einige der üblichen Argumente, wonach der justizförmige Prozess zu besseren Ergebnissen führe als der politische im Fall des EGMR nicht überzeugen, weil die Institution des EGMR in gewissen Belangen kritischer zu beurteilen ist als nationale Verfassungsgerichte. Zu be­achten sind namentlich: die teils unzureichende Bestellung des EGMR (Wahlverfahren der Ge­richtsmitglieder); seine oftmals wenig überzeugende Dogmatik; die hohen Zugangshürden, ein­schliesslich unzureichender Prozesskostenhilfe; das starke, aber ungleiche Gewicht bestimmter Interessengruppen, die strategische Prozesse führen und sich mittels schriftlicher Stellungnah­men («third-party interventions») zu hängigen Verfahren vor dem EGMR engagieren; sowie in­transparente, ohne Angabe von Gründen ergehende Entscheide.

Insgesamt lassen aber alle diese Überlegungen keine abschliessende Beurteilung der Legitimi­tät der internationalen quasi-verfassungsgerichtlichen Kontrolle der nationalen demokrati­schen Politikentscheidungen durch den EGMR zu. Zwar ist es aus Sicht der politischen Gerech­tigkeit ein Problem, wenn ein demokratischer Mehrheitsentscheid von einer Handvoll Richterin­nen und Richter «kassiert» wird. Doch lässt sich dieser Perspektive entgegenhalten, dass es genau die dem EGMR demokratisch übertragene Aufgabe sei, von seiner supra-nationalen Position aus die politischen Mehrheitsentscheidungen der Staaten auf ihre Vereinbarkeit mit den konventionsgeschützten Individualrechten zu kontrollieren. Aus einer liberalen Perspektive betrachtet macht gerade der zuverlässige gerichtliche Schutz fundamentaler Freiheitsrechte eine gerechte demokratische Ordnung aus.

Je nachdem, wie man die beiden Perspektiven beurteilt und gewichtet, erlangt man ein an­de­res Verständnis der angemessenen Rolle des EGMR. Zwei Grundhaltungen lassen sich unter­scheiden. Sie können anhand je eines Vertreters summarisch wie folgt dargestellt werden.

Auf der einen Seite vertritt George Letsas eine auf den Arbeiten Ronald Dwor­kins aufbauende Position. Dieser Denkrichtung zufolge gibt es eine richtige Lesart der liberalen Rechte, die allen Menschen gleichermassen zustehen und die die EMRK schützt. Letsas zufolge vermag die rich­terliche Vernunft des EGMR den korrekten Gehalt der Konventionsrechte zu identifizieren, an­ders als das mehrheitsdemokratische Klüngeln der staatlichen Politik. Aus Letsas Perspektive betrachtet ist der Letztentscheid über die Konventionsrechte daher allein dem EGMR anzuver­trauen. Sodann ist es nach Letsas geradezu die Pflicht des EGMR, die Konventi­onsrechte stän­dig aktiv fortzuentwickeln, nämlich immer dann, wenn sich das superiore rich­terliche Verständ­nis darüber, wie die Konventionsrechte richtigerweise zu verstehen sind, wei­terentwickelt. Gründe für eine subsidiäre, den Staaten nachgeordnete Rolle des EGMR gibt es aus dieser Perspektive grundsätzlich keine.

Die andere Grundhaltung lässt sich anhand des in der neorömisch-republikanischen Tradition stehenden Werks von Richard Bellamy zeigen. Dieser Sichtweise zufolge können Menschen­rechte nicht von ihrem gesellschaftlichen Kontext losgelöst werden. Sie sind nie unpolitisch. Ganz im Gegenteil: Rechte sind relational und in ihrer Struktur triadisch, denn jedes Individual­recht stellt prinzipiell immer eine Abgrenzung der zulässigen Freiheitsausübung oder Interessen­verfolgung der einen Person gegenüber derjenigen einer anderen Person dar. Das Recht der einen Person erscheint aus der Optik der anderen Person beziehungsweise der im Staat konsti­tuierten politischen Gemeinschaft stets als ein Verbot oder gar als eine Pflicht zu handeln. Die Frage, welche Rechte wir uns wechselseitig zugestehen, kann demnach nur in einer gerechten Weise beantwortet werden, wenn wir sie unter Achtung unserer Gleichheit einer Antwort zufüh­ren, d.h. in einem demokratischen Prozess. Die Abkoppelung von Individualrechten von der politischen Demokratie würde den politischen Aspekt der Gleichheit aller Menschen missach­ten. Dieser Aspekt gilt für den gleichen moralischen Status aller Personen jedoch als genauso wichtig wie gleiche liberale Rechte. Diese Überlegungen bedeuten für Bellamy freilich nicht, dass die rechtebasierte gerichtliche Kontrolle gänzlich abzulehnen wäre, sondern nur, dass dem demokratischen Prozess in der Ausgestaltung eines Grundrechteregimes ebenfalls eine wich­tige Rolle zugestanden werden muss.

Durch dieses Spannungsfeld zwischen demokratischer Politik und gerichtlichem Menschen­rechtsschutz soll das Subsidiaritätsprinzip die Akteure des EMRK-Systems navigieren, indem es Wege zu einer angemessenen Rollenverteilung zwischen der rechtebasierten Kontrolle des EGMR und den mehrheitsdemokratisch getroffenen Politikentscheidungen der Mitgliedstaaten aufzeigt. Anders ausgedrückt soll es die Rollenverteilung zwischen dem EGMR und den staatli­chen (politischen) Behörden so anleiten, dass eine insgesamt möglichst legitime, d.h. liberale und demokratische Ordnung resultiert.

Erklärung und Rechtfertigung

Weil die politische Demokratie weiterhin hauptsächlich auf der staatlichen Ebene operiert, müssen sich die Konventionsrechte vorrangig von den staatlichen Demokratien her («bottom-up») entwickeln, um als demokratisch legitim gelten zu können. Andernfalls würde dem Prinzip der politischen Gleichheit der ihm gebührende Respekt nicht zuteil. Würde die Deutungshoheit über die Konventionsrechte allein beim EGMR liegen, würde der politische Aspekt des mora­lisch gleichen Status aller Menschen missachtet. Die Konventionsrechte könnten nicht als Rechte verstanden werden, die sich moralisch gleichwertige, freie Menschen gegenseitig – also selbst – zugestehen. Die entsprechende demokratische Grundlage würde ihnen fehlen. Vielmehr erschienen sie als heteronome Ansprüche, die den Menschen von einer ausserhalb ihrer selbstregierten politischen Gemeinschaft stehenden Institution nach letzterer subjektiven Gutdünkens eingeräumt werden. Die subsidiäre, den mitgliedstaatlichen Behörden nachge­ordnete Rolle des EGMR erklärt und rechtfertigt sich mithin aufgrund des Fehlens eines demo­kratischen Politprozesses auf der supa-nationalen Ebene des EGMR – aufgrund der internatio­nalen Position des EGMR, wegen der er in einer Art «demokratischen Vakuums» operiert.

Grundzüge einer angemessenen Verantwortungsteilung

Nach dem Gesagten besteht die Aufgabe des – eben subsidiären – EGMR «bloss» darin, die staatlichen Demokratien bei der «bottom-up» Entwicklung der Konventionsrechte zu unterstüt­zen sowie einmal erreichte gemeineuropäische Menschenrechtsschutzniveaus zu konsolidieren und abzusichern. Insofern spielt der EGMR eine duale Rolle.

Einerseits steht er in einem ständigen Dialog mit den Staaten über das angemessene Verständ­nis der Konventionsrechte, was letzten Endes im Wesentlichen eine Frage der politischen Moral ist, die es in einem argumentativen Diskurs auszuhandeln gilt. In dieser Rolle funktioniert der EGMR hauptsächlich unterstützend: Er hält die europaratsweite Debatte über die richtiger­weise zu schützenden Individualrechte aufrecht, er moderiert sie und er trägt argumentativ zu ihr bei. Hier erscheint der EGMR unweigerlich als eine Art moralischer Instanz, die Einfluss darauf nimmt, in welche Richtung sich die materiellen Konventionsstandards entwickeln sollen.

Andererseits sichert der EGMR konsolidierte Menschenrechtsstandards ab, indem er kontrolliert, dass die Staaten die einmal erreichten Schutzniveaus – man könnte etwa vom «acquis con­ventionnel» sprechen – im Einzelfall auch tatsächlich respektieren. Dabei funktioniert der EGMR als genuin rechtliche und gerichtliche Instanz, die zweifelsfrei geltenden Rechtsregeln im Ein­zelfall Nachachtung verleiht.

Natürlich lassen sich diese beiden Rollen des Gerichtshofs nicht scharf trennen, sodass er ge­wissermassen zwischen ihnen oszilliert. Am klarsten der einen beziehungsweise der anderen Rolle zuordnen lassen sich einerseits Leiturteile und andererseits das «well-established case-law». Im Bereich des «well-established case-law» urteilt der Gerichtshof einstimmig in einem ver­einfachten Verfahren gestützt auf weithin akzeptierte Grundsätze des Konventionsrechts. Die­ser (quantitativ grösste) Teil seiner Urteile ergeht in einer Art Massenverfahren und gibt üblicher­weise kaum Anlass zu öffentlichen Diskussionen, Kritik und dergleichen. Ganz anders Fälle, die neue Rechtsfragen aufwerfen und Anlass zu wegweisenden Urteilen geben: Die erstmalige Be­antwortung von bedeutenden Rechtsfragen erfordert einen hohen Begründungsaufwand und trifft regelmässig auf grosse sowie nicht selten auch kritische Resonanz. Wo sich einschlägiges Konventionsrecht am Herausbilden ist, besteht viel Raum für Kontroversen. Das Interesse der Öffentlichkeit an solchen Fällen ist entsprechend gross, und unterschiedliche Kreise (darunter verfahrensunbeteiligte Mitgliedstaaten, Expertengremien und Nichtregierungsorganisationen) wollen ihre Rechtsauffassung kundtun, um Einfluss auf die Rechtsentwicklung zu nehmen. Die Leiturteile, die aus solchen Verfahren hervorgehen, stossen denn auch oft auf Kritik. Sachlicher Widerspruch verhallt indes nicht ungehört. Er wird vom EGMR rezipiert und kann auf diesem Weg wiederum zur Rechtsentwicklung beitragen.

III. Subsidiaritätsprinzip: Verwirklichung

Das Oszillieren zwischen den beiden hier lediglich grob umrissenen Rollen des EGMR widerspie­gelt sich in den charakteristischen Strukturen des EMRK-Systems und Praktiken des EGMR, die häufig als schwer verständlich oder gar als widersprüchlich, arbiträr und ähnlich beschrie­ben werden. Was die Kritiker monieren, ist freilich eine unvermeidliche Folge der richtig verstan­de­nen Subsidiarität des EGMR und daher insoweit gutzuheissen, als das Subsidiaritätsprinzip zur Legitimität der EMRK als liberale und demokratische Menschenrechtsordnung beiträgt.

Die einzelfallorientierte (als willkürlich verrufene) Verhältnismässigkeitsprüfung, die flexible (der Rechtssicherheit mitunter abträgliche) Verbindlichkeit und Wirkung der EGMR-Urteile und die (als prinzipienlos kritisierte) Praxis des EGMR, die Fortentwicklung der Konventionsrechte nicht zuletzt von Trends in der mitgliedstaatlichen Rechtsentwicklung abhängig zu machen, führen dazu, dass der Gerichtshof und die mitgliedstaatlichen Behörden in einem fortwährenden Dia­log über den Gehalt und den Umfang der Konventionsrechte bleiben, in dem nie eine Seite endgültig das letzte Wort hat. Die Folge ist eine schrittweise, nicht notwendigerweise immer lineare Fortentwicklung der Konventionsrechte. Diesem «interpretative incrementalism» zu fol­gen oder gar seine Entwicklung zuverlässig vorherzusagen, gestaltet sich zwar als anspruchsvoll, doch stellt er sicher, dass die Fortentwicklung der Konventionsrechte in der geteilten Verant­wortung der nationalen und internationalen, politischen und gerichtlichen Behörden bleibt. Nur so lässt sich das Erfordernis der demokratischen «bottom-up» Legitimation des Konventions­rechts mit der Rolle des EGMR als Hüter gemeineuropäischer Standards wenigstens annähe­rungsweise verbinden.

Dieses vom Subsidiaritätsprinzip angeleitete Verständnis der Strukturen und Praktiken des Strass­burger Menschenrechtsschutzsystems lässt sich anhand folgender, nicht abschliessend und bloss summarisch erläuterter Beispiele illustrieren.

Verbindlichkeit und Wirkung von EGMR-Urteilen

EGMR-Urteile sind für die Parteien eines Beschwerdeverfahrens unbestrittenermassen rechtlich verbindlich. Trotzdem gibt es im EMRK-System keinen starken Durchsetzungsmechanismus. Im hyb­riden juristisch-politischen System der Kontrolle der Umsetzung der EGMR-Urteile kann die Frage, was die Konvention beziehungsweise ein auf sie gestütztes EGMR-Urteil genau verlangt, daher in engen Grenzen nochmals debattiert werden. Das heisst, unter Umständen kann das Ministerkomitee seiner Kontrolltätigkeit eine strengere oder weniger strenge Lesart eines EGMR-Urteils zugrunde legen und so implizit Stellung dazu beziehen, wie der Gerichtshof das Konven­tionsrecht via Einzelfallurteil fortentwickeln will.

Zur genauen Wirkung seiner Urteile hat sich der EGMR nie dezidiert geäussert. Insbesondere hat er sich nie eine strikte Präzedenzwirkung seiner Urteile auferlegt. Umgekehrt hat er nie explizit und konsequent festgestellt, dass seine Urteile über den (die) verfahrensbeteiligten Staat(en) hinaus für alle Mitgliedstaaten verbindlich gelten würden. Einerseits belässt sich der EGMR da­mit die Möglichkeit, stets auf Kritik an seiner Rechtsprechung zu reagieren, indem er kontroverse Rechtsprechungslinien in Folgefällen differenziert oder gar umstösst. Andererseits erlaubt er es damit den Mitgliedstaaten, innerhalb des Rahmens der etablierten gemeineuropäischen Stan­dards ihre je eigenen innerstaatlichen Menschenrechtspraktiken zu verfolgen. Dies stellt eine unverzichtbare Voraussetzung für die «bottom-up» Fortentwicklung der Konventionsrechte dar.

Verhältnismässigkeitsprüfung

Eine zentrale Bedeutung für die angemessene Rollenverteilung zwischen dem EGMR und den Mitgliedstaaten kommt ferner der (kontroversen) methodischen Wahl des EGMR zu, einen Grossteil seiner Fälle mittels Verhältnismässigkeitsprüfung im engeren Sinn zu entscheiden; d.h. mittels der normativen (wertenden) Interessenabwägung («balancing exercise»), die in der ver­fassungsrechtlichen Dogmatik als Frage der Zumutbarkeit eines Grundrechtseingriffs bekannt ist. Diese Praxis lässt sich dadurch erklären, dass die Verhältnismässigkeitsprüfung eine durch und durch argumentative Praxis darstellt, die ganz darauf ausgerichtet ist, dass das normativ bessere Argument obsiegt. In Einklang damit auferlegt sich der EGMR dann höchste Zurückhal­tung («judicial restraint»), wenn sich die mitgliedstaatlichen Behörden eingehend und sorgfältig mit allen wesentlichen Gesichtspunkten eines strittigen Falls auseinandergesetzt haben.

Entscheidet in einem System das normativ bessere Argument, lässt sich das als eine «culture of justification» beschreiben. In dieser Kultur wird der Rechtfertigung allen staatlichen Handelns grösstes Gewicht beigemessen, was sie von einer «culture of authority» unterscheidet, in der die formale Hierarchie entscheidend ist. Damit wird es dem EGMR möglich, mit den mitglied­staatlichen Behörden einen fortwährenden Dialog über den Gehalt und die Bedeutung der Konventionsrechte zu führen. Dass eine Rechtsprechungslinie aufgrund konstruktiven Dissenses seitens mitgliedstaatlicher Behörden modifiziert wird, ist also nie ausgeschlossen. Kurz: Niemand behält das wirklich letzte Wort. Dabei handelt es sich um eine Grundvoraussetzung für die zwi­schen dem EGMR und den Mitgliedstaaten geteilte Deutungshoheit über die Konventions­rechte.

Konsensmethode

Im Anschluss an das Gesagte lässt sich schliesslich auch die sog. Konsensmethode («European consensus doctrine») des EGMR verstehen. Sie besteht im Wesentlichen darin, dass der Ge­richtshof davon absieht, die Konventionsrechte massgeblich weiterzuentwickeln, solange eine entsprechende Rechtsentwicklung nicht bereits in einer Grosszahl der mitgliedstaatlichen Men­schenrechtspraktiken vollzogen wurde. Dieses Prinzip stellt trotz seiner Mängel und Schwierig­keiten eine der objektivsten Methoden dar, über die der EGMR verfügt, um die Konventions­rechte in einer Weise fortzuentwickeln, die als demokratisch legitim gelten kann, weil sie in den demokratischen Praktiken der Mitgliedstaaten verwurzelt ist.

Dass es sich bei diesem rechtsvergleichenden Verfahren nicht um eine exakte Wissenschaft handelt, ist wohlgemerkt kein Nachteil, sondern hinsichtlich des Ziels, eine angemessene Rol­lenverteilung zwischen dem EGMR und den Mitgliedstaaten sicherzustellen, ein Vorteil. Ein streng arithmetisches Vorgehen würde weder der Rolle des Gerichtshofs noch der Komplexität der Sache gerecht. Hingegen eröffnet die lediglich teilweise Objektivität dieser Methode dem EGMR eine weitere Möglichkeit, die Verwurzelung der sich ständig weiterentwickelnden Kon­ventions­rechte in den demokratischen Meinungsbildungsprozessen der Staaten sicherzustellen, ohne sich dabei seiner Rolle zu entledigen, auf die Fortentwicklung der gemeineuropäischen Menschenrechtsstan­dards hinzuwirken.

Dies führt zurück zum Ausgangspunkt dieses Abschnitts: Die flexible Rechtsprechungspraxis des EGMR und die kaum in eine klare Hierarchie passenden institutionellen Strukturen des EMRK-Systems ermöglichen einen fortdauernden Rechtfertigungsdialog zwischen den Staaten und dem EGMR über den Umfang und Gehalt, der den Konventionsrechten richtigerweise zuzu­schreiben ist. Ohne diese inkrementelle dialogische Auslegung und Anwendung der Konven­ti­onsrechte wäre ihre demokratisch legitime «bottom-up» Entwicklung nicht möglich, und das Telos hinter dem Prinzip der Subsidiarität des EGMR würde nicht gewahrt.

IV. Schlussbemerkung

Abschliessend gilt es zu betonen, dass die Funktionsfähigkeit des skizzierten, vom Subsidiaritäts­prinzip angeleiteten EMRK-Systems hohe Anforderungen an alle Beteiligten, aber insbesondere an die ihre primäre Rolle einfordernden Staaten stellt. Sie müssen sich aktiv und in guten Treuen an der Fortentwicklung des Konventionsrechts beteiligen und dazu konstruktiv mit den Instituti­onen des EMRK-Systems, namentlich dem Gerichtshof, kooperieren. Letztlich handelt es sich beim EMRK-System um ein moralisches Projekt, das vom ständigen politischen Willen, von der anhaltenden liberal-demokratischen Überzeugung Europas getragen wird. In diesem Sinn liegt die Letztverantwortung für die EMRK nicht nur nicht beim EGMR, sondern auch nicht lediglich bei den Staaten und ihren Regierungen. Vielmehr tragen wir alle die Verantwortung, für ein freiheitliches und demokratisches Europa einzustehen.

 

Dr. iur. Reto Walther doktorierte an der Universität Zürich. Seine Dissertation “Subsidiarity: The ECHR Between Law and Politics“, auf die sich dieser Beitrag stützt, wurde mit dem Jahrespreis 2023 ausgezeichnet. Eine Buchpublikation ist in Vorbereitung. Der Autor ist Mitglied von UNSER RECHT.

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