“Sicherheit im Rechtsstaat – Furcht, Illusionen und Hoffnung”

Von Dr. iur. Patrice Martin Zumsteg

Mein Eindruck ist: Wir leben in einer furchtsamen Zeit. Wir fürchten uns – gerade in unserer Schweizer Wohlstandsgesellschaft – vor Übergewicht und dem Alter. Wir fürchten uns vor Terrorismus und Extremismus – auch in der relativ sicheren Schweiz.

Damit sind wir bei dem Stichwort, um welches der vorliegende Versuch kreist: Sicherheit. Was soll das sein? Was hat Sicherheit mit Furcht zu tun? Und in welchem Zusammenhang mit dem Rechtsstaat steht die Sicherheit?

Die abstrakte Umschreibung, wonach Sicherheit die Abwesenheit von Gefahr darstelle, bringt kaum einen Erkenntnisgewinn. Überzeugender ist der Fokus auf «human security»: Der einzelne Mensch, sein Leben, seine Rechte sind vor Gefahren zu schützen. Die Verpflichtung des Staates, diesen Schutz für seine Rechtsunterworfenen zu leisten, lässt sich aus den Grundrechten ableiten. Staatlichen Behörden ist es nicht nur selber grundsätzlich untersagt, in die Grundrechte einer Person einzugreifen, sie haben diese vielmehr auch vor Gefahren zu schützen, welche von Dritten oder etwa von Naturereignissen ausgehen. In dieser doppelten grundrechtlichen Verpflichtung – Abwehr- und Schutzanspruch – zeigt sich auch schon das hier interessierende Spannungsfeld.

Die Wahrung des Rechtsstaats, der Grundrechte, gebietet gleichzeitig staatliches Unterlassen und staatliches Tun, Freiheit lassen und Sicherheit schaffen. Hier einen Ausgleich zu finden, obliegt in erster Linie dem demokratisch legitimierten Verfassungs- und Gesetzgeber. Was abstrakt klingt, ist sehr konkret: Verfassungs- und Gesetzgeber sind wir – die stimmberechtigten Einzelnen. Und damit sind wir bei der Furcht.

Mögliche Risiken gibt es nämlich in unendlicher Zahl, so dass die Hoffnung, diesen rechtzeitig allen zu begegnen, zu immer neuen präventiven Massnahmen führen wird. Wenn der Einzelne aus Furcht vor Übergewicht und Alter regelmässig joggt, sich Botox injizieren lässt und täglich fünf Portionen Obst und Gemüse isst, scheint mir das harmlos. Wenn eine Mehrheit aus Furcht vor Übergewicht und Alter beginnt, die diesbezüglichen Regeln für die gesamte Gesellschaft zu verändern, scheint mir das übergriffig. Und wenn aus Furcht vor Kriminalität die Grundrechte immer weiter beschnitten werden, scheint mir das gefährlich.

Anna Coninx (Unsere Sicherheit – die Freiheit der anderen, Das Problem der selektiven Freiheitsbeschränkungen in der Sicherheitspolitik, ZSR 2014, S. 103 ff., passim) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir «unsere» Sicherheit regelmässig mit Beschränkungen der Freiheit «der Anderen» steigern: Die demokratische Mehrheit geht bei der Einführung neuer Massnahmen zur Wahrung der Sicherheit oftmals nicht davon aus, dass die entsprechenden Regeln auf sie angewandt werden könnten. Dem liegt meiner Meinung nach ein Schwarz-Weiss-Denken zu Grunde. Auf der einen Seite die Mehrheit der braven Bürger, welche Schutz verdienen. Auf der anderen Seite eine Minderheit aus Störerinnen, notorischen Straftätern, Gefährderinnen und gesellschaftlichen Problemen, welche diesen Schutz überhaupt erst erforderlich machen.

Ein Schwarz-Weiss-Denken blendet die Abstufungen der Realität aus – ist mit anderen Worten eine Illusion. Diese Illusion lädt dazu ein, mit der grösstmöglichen Härte gegen Gefahren und Gefährder vorzugehen. Unbegrenzt sind die Möglichkeiten der Mehrheit dabei allerdings nicht. Rechtsstaatliche Absicherungen wie das Verhältnismässigkeitsprinzip, der Gerichtsvorbehalt und andere interne und externe Aufsichtsmechanismen hegen das Sicherheitsdispositiv ein.

Besonders umfangreich sind diese Begrenzungen beim Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Im Zweckartikel des entsprechenden Gesetzes werden insbesondere die «Sicherung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen der Schweiz» und die «Freiheitsrechte ihrer Bevölkerung» angeführt (Art. 2 lit. a NDG). Zur Erreichung dieser Ziele hat der NDB weitreichende Möglichkeiten, in eben diese Freiheitsrechte einzugreifen (Art. 13 ff. NDG). Und um dabei wiederum der Gefahr des Missbrauchs zu begegnen, wurde ein ganzer Abschnitt «Kontrolle und Aufsicht des NDB» in das Gesetz eingefügt. Es beginnt bei der Selbstkontrolle (Art. 75 NDG), geht über die Unabhängige Aufsichtsbehörde (Art. 76 ff. NDG), die Unabhängige Kontrollinstanz für die Funk- und die Kabelaufklärung, die sogenannte UKI (Art. 79 NDG), die Aufsicht durch den Bundesrat (Art. 80 NDG) bis zur Parlamentarischen Oberaufsicht (Art. 81 NDG) mit den besonderen Befugnissen der Geschäftsprüfungs- und Finanzdelegation.

Trotz all dieser rechtsstaatlichen Absicherungen ergibt sich aus der Zusammenfassung einer Administrativuntersuchung, dass der NDB über fünf Jahre lang «Informationen ohne Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und damit unrechtmässig Daten beschafft und bearbeitet hat». Die Administrativuntersuchung nennt dann eine Reihe von systematischen «Ursachen für das Eigenleben von Cyber NDB», darunter auch: «Fehlende Kontrolle und Aufsicht».

Zugespitzt formuliert: Zur Abwehr von Gefahren haben wir den NDB geschaffen und mit weitreichenden Möglichkeiten ausgestattet, in die Grundrechte einzugreifen. Zur Abwehr der Gefahr des Missbrauchs dieser Möglichkeiten haben wir sodann zahlreiche Kontrollen und Aufsichtsinstanzen installiert. Und trotzdem kam es zu einem solchen Missbrauch, zu einem Handeln ohne gesetzliche Grundlage. Sind rechtsstaatliche Absicherungen zur Verhinderung von Missbrauch der Massnahmen zur Gefahrenabwehr also eine blosse Illusion? Und wie sollen wir – als Gesellschaft und allenfalls als Verfassungs- und Gesetzgeber – darauf reagieren?

Zwei Reaktionen auf diese Geschehnisse sind meiner Meinung nach ebenso naheliegend wie kurzsichtig: Erstens kann man mit dem Finger auf die Behörde zeigen: «Der NDB hat alles falsch gemacht.» Das blendet aus, dass Behörden in aller Regel ehrlich bemüht sind, die ihnen übertragenen Aufgaben so gut als möglich zu erfüllen. So konstatiert die Administrativuntersuchung auch in diesem Fall: Es habe ein hoher Erwartungsdruck geherrscht. Es sei deshalb nachvollziehbar, dass «neue Mittel und Methoden» gesucht worden seien, um die «zugewiesene Aufgabe erfüllen zu können». Zweitens kann man in Aktivismus verfallen: «Da muss man doch was tun – wir müssen die Aufsicht über den NDB ausbauen.» Das blendet den Ist-Zustand aus, in welchem die Aufsicht bereits sehr stark ausgebaut ist. Versagt hat denn auch nicht unbedingt das System, sondern vor allem die Menschen, welche mit der Ausübung dieser Aufsicht betraut waren. «Unverständlich erscheint heute», dass all die zuständigen Instanzen und Personen «die Unrechtmässigkeit der während Jahren geläufigen Praxis nicht erkannten», hält die Zusammenfassung der Administrativuntersuchung fest.

Was also tun? Ich meine, wir müssen bei anderen Punkten – und vor allem bei uns selbst – ansetzen: Wir müssen akzeptieren, dass sich nicht alle Risiken des Lebens ausschalten lassen. Furcht gehört ein Stück weit zu unserer menschlichen – das heisst eben auch endlichen – Existenz. Und wenn wir einer Gefahr rechtlich begegnen wollen, dann sollten wir uns vorher sehr ernsthaft fragen, wie viel an Grundrechtseinschränkungen wir etablieren wollen, um uns weniger zu fürchten. Der Ausweg, im Nachhinein die Behörden zu rügen, welche die ihnen übertragenen Aufgaben ausführen, ist zu einfach.

Damit ist nicht gesagt, dass staatliche Instanzen nach der formell korrekten Aufgabenübertragung aller Verantwortung entbunden sind. Im Gegenteil. Rechtlich verankerte Zuständigkeiten und Kompetenzen im Sicherheitsbereich sind nicht zu verwechseln mit der eigentlichen «Ordnungsproduktion» (Benjamin Derin/Tobias Singelnstein) durch die ausführenden Menschen. Die Personen, welche in Behörden tätig sind, die Grundrechtseinschränkungen vornehmen dürfen, sollten sich der entsprechenden Macht und Verantwortung stets bewusst sein – und sich nicht darauf verlassen, dass ein ganzes Geflecht an Aufsichts- und Rechtsmittelinstanzen existiert.

Dasselbe gilt für die Menschen in diesen Aufsichts- und Rechtsmittelinstanzen. Sie dürfen sich nicht auf die blosse Existenz dieses Systems verlassen, sondern müssen es mit Leben füllen. «Der Grund allen Rechts ist der Mensch» (Jörg Paul Müller). Was in diesem Zusammenhang meint: Primärer Zweck des Staates ist die Realisierung individueller Freiheiten, und nicht abstrakter Sicherheitsinteressen. Die Überprüfung der Einhaltung des Rechts wird ohne staatsbürgerliches Gewissen zur blossen Formalität.

Der Glaube, mittels rechtsstaatlicher Absicherungen sowohl die Sicherheit zu erhöhen als auch die Grundrechte zu wahren, ist keine Illusion, sondern eine Hoffnung, für die wir alle – einzeln und gemeinsam – die Verantwortung tragen.

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