Ein Gespräch mit dem Völkerrechtler Prof. Dr. iur. Mark Villiger

Von Stéfanie Trautweiler

Mark Villiger ist Völkerrechtler durch und durch. Er wirkte als Professor für Völkerrecht und Europarecht an der Universität Zürich, gab Kurse an der Militärabteilung der ETH zum humanitären Recht und Kriegsvölkerrecht und war während vieler Jahre in verschiedenen Funktionen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg tätig, zuletzt als Richter im Namen von Liechtenstein. Sein Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist zum Standardwerk geworden und liegt mittlerweile in der dritten Auflage vor. Anfang August 2023 präsentierte er mit dem Handbuch der schweizerischen Neutralität sein neustes Werk.

Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit hatte sich Mark Villiger während Jahren immer wieder mit dem Thema Neutralität befasst. Der Impuls, sein Wissen in einem Buch zu systematisieren, kam 2022 gleich von zwei Seiten: Zum einen durch den Angriff Russlands auf die Ukraine, welcher Fragen zu Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik aufwarf, die bisher in der Literatur nicht umfassend bearbeitet worden waren. Zum anderen durch einen Artikel von René Rhinow, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität Basel und Alt-Ständerat, mit dem Titel «Wie weiter mit der Neutralität?», welchen Mark Villiger aus völkerrechtlicher Sicht kommentierte und ergänzte. Sowohl Mark Villiger als auch René Rhinow sind Mitglieder von Unser Recht. Die folgenden Ausführungen beruhen auf einem Gespräch, zu dem Mark Villiger die Autorin empfing.

Neutralitätsrecht

Die völkerrechtliche Perspektive ist Mark Villiger wichtig, handelt es sich doch bei der Neutralität nicht um eine schweizerische Erfindung, sondern um ein völkerrechtliches Konstrukt, welches auf den Haager Konventionen von 1907 basiert. Die Schweiz hatte diese «Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs» 1910 ratifiziert, und noch im selben Jahr traten sie in Kraft. Den damaligen geopolitischen Gegebenheiten entsprechend waren die Abkommen nur von einer begrenzten Anzahl Staaten ratifiziert worden. Seither sind sie jedoch ins Völkergewohnheitsrecht eingegangen und sind daher für die gesamte Staatenwelt – inklusive der Schweiz – verbindlich. Letzteres müsse betont werden, sagt Mark Villiger, weil es oft missverstanden werde: Völkerrecht, so die Meinung vieler, sei unverbindlich und damit auch nicht Recht im eigentlichen Sinn, denn keiner halte sich daran und jeder Staat mache, was er wolle. Diese Ansicht überrascht, weil ja jedes Recht gebrochen werden kann – und es in der Praxis auch ständig wird – und trotzdem niemand dem Strafrecht beispielsweise den Rechtscharakter absprechen würde.

Auch die Tatsache, dass Neutralität Rechte und Pflichten umfasst, scheint nicht immer ganz klar zu sein, obwohl beides in den Haager Konventionen deutlich formuliert ist, so z.B. das Recht auf die Einforderung der Anerkennung der Neutralität und das Recht auf die Unverletzlichkeit des Territoriums, oder die Pflicht, Kriegsparteien nicht mit Kriegsmaterial zu unterstützen und neutralitätswidrige Handlungen durch Konfliktparteien auf dem neutralen Staatsgebiet zu verhindern.

Manche Historikerinnen und Historiker verorten den Beginn der schweizerischen Neutralität nach der Schlacht von Marignano 1515. Gemäss Mark Villiger gibt es Hinweise darauf, dass ihre Wurzeln – in einfacherer Form natürlich – noch weiter zurückliegen könnten. Sicher ist nur, dass dieses Konzept weit in die Geschichte zurückreicht. Das Neutralitätsrecht aber, wie man es heute kenne, betont Mark Villiger, werde durch die Haager Konventionen definiert und existiere unabhängig von der Schweiz und ihrer Positionierung dazu. Denn obwohl sie schon lange vorher neutral war, habe die Schweiz diese völkerrechtlichen Verpflichtungen freiwillig übernommen, als sie schliesslich geschaffen wurden, und unterliege ihnen daher, bis sie von ihnen zurücktrete.

Mit dem Argument, die Haager Konventionen seien uralt, diffus, würden ständig verletzt und keiner kenne sie heute mehr gibt es Stimmen, die fordern, diese Konventionen über Bord zu werfen, respektive sie nur dann zu befolgen, wenn dies für die Schweiz nützlich wäre. Diese Forderung ist gemäss Mark Villiger unrealistisch, da sie auf der Fehlannahme beruhe, die Schweiz habe die Neutralität für sich erfunden und daher gelte diese nur für sie. Tatsächlich aber sei die Schweizer Neutralität durch das Konventionssystem definiert. Aus diesem völkerrechtlichen Rahmen könne sich die Schweiz nach Absprache mit den anderen Staaten zwar jederzeit zurückziehen, aber dann würde sie von letzteren auch nicht mehr als neutral betrachtet, da völkerrechtlich abgestützte Neutralität für beide Seiten verpflichtend wirke, und eine situative Neutralität der Schweiz wohl von keinem anderen Staat einfach so auf die Schnelle akzeptiert würde. Mark Villiger betont auch, dass die Schweiz in Bezug auf ihre Neutralität entgegen der landläufigen Meinung auch kein Einzelfall sei, denn es gebe neben ihr noch weitere neutrale Staaten in Europa – Irland, Österreich, Malta, der Heilige Stuhl und, bis vor kurzem, Schweden und Finnland – und die Schweiz unterscheide sich nicht in Bezug auf das Neutralitätsrecht, sondern lediglich in der Ausgestaltung ihrer Neutralitätspolitik von ihnen.

Das Neutralitätsrecht legt die rechtlichen Rahmenbedingungen eines neutralen Staates fest. Es verlangt unter anderem von ihm, in Friedenszeiten eine Politik zu verfolgen, die es ihm erlaubt, im Konfliktfall neutral zu bleiben – z.B. durch sogenannte Vorwirkungen (keinem Militärbündnis beitreten, Gute Dienste leisten, etc.). Das Neutralitätsrecht kommt üblicherweise nur in einem Konfliktfall zum Tragen. Dann werden Fragen wie zur Zeit diejenige nach möglichen Kriegsmateriallieferungen an Deutschland für die Ukraine aufgeworfen, obwohl die Situation gemäss Mark Villiger aus völkerrechtlicher Sicht eigentlich ganz klar sei: Lieferungen von Panzern oder Munition wären nach Überzeugung der mit Neutralitätsrecht befassten Fachleute ein klarer Verstoss gegen Treu und Glauben. Im Rahmen der Neutralitätspolitik hingegen können solche Fragen jederzeit diskutiert werden, denn Neutralitätspolitik befasst sich mit der Ausgestaltung der Neutralität auf praktischer Ebene,

Neutralitätspolitik

Neutralitätspolitik ist – im Gegensatz zum statischen Neutralitätsrecht – dynamisch und verändert und wandelt sich immer wieder. Ein Blick auf die Zeitgeschichte macht diesen Wandel sichtbar: Im Kalten Krieg legte die Schweiz ihre Neutralität sehr eng aus und betrieb deshalb keine eigentliche Aussenpolitik, sondern nur Aussenwirtschaftspolitik. Später begann eine langsame und vorsichtige Öffnung, dank der die Schweiz heute Mitglied der UNO ist, sich gemäss ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen an deren Sanktionen beteiligt und auch die meisten EU-Sanktionen übernimmt. Obwohl immer wieder Anläufe unternommen werden, die schweizerische Neutralitätspolitik in ihrer Auslegung zu verstärken oder abzuschwächen, ist sie gemäss Mark Villiger seit ungefähr zehn Jahren relativ konstant. In ihren Öffnungsbestrebungen gehe die Schweiz noch immer viel weniger weit als die ebenfalls dauernd neutralen Staaten Irland und Österreich, und auch in ihren Priorisierungen würden sich die drei Staaten unterscheiden: Während die Schweiz grossen Wert auf Verteidigung lege und die Verteidigungsausgaben dementsprechend anpasse, budgetierten Österreich und Irland nur gerade das neutralitätsrechtlich vertretbare Minimum, wie Mark Villiger in seinem Handbuch aufzeigt. Dafür würden beide Staaten mehr Anstrengungen zur Friedenssicherung unternehmen und seien viel aktiver als die Schweiz in ihren UNO-Blauhelm-Einsätzen – oder, in der Schweiz, besser Blaumützen-Einsätzen, da letztere signalisieren, dass die Soldaten nur zum Selbstschutz bewaffnet sind. Dass beide Staaten zudem Mitglieder der EU seien, zeige einerseits, dass dauernde Neutralität kein Grund zur Einschränkung der internationalen Vernetzung sein müsse, auch wenn die schweizerische Sonderfallmentalität dies manchmal glauben lasse. Andererseits beweise die Wahl der Schweiz in den UNO-Sicherheitsrat mit 192 von 195 Stimmen, dass auch die Staatenwelt in der Neutralität keinen Hinderungsgrund für internationales Engagement sehe, und die Schweiz und ihre Neutralität breit akzeptiert seien.

Kommunikation

Neutralität ist eine Friedensidee, und die Schweiz trägt als neutraler Staat mit ihren humanitären Einsätzen, ihren Guten Diensten und ihrer internationalen Vernetzung das ihre zur Friedenssicherung und zum Erhalt des Gleichgewichts in Europa bei. Aus diesem Grund ist Mark Villiger überzeugt, dass Neutralität kein überholtes Konzept ist, sondern genauso zur Schweiz gehört wie die Alpen und die Mehrsprachigkeit, und dass eine kluge Neutralitätspolitik der Schweiz hilft, in der modernen Welt zu bestehen, weil sie es ihr als Kleinstaat erlaubt, international sozusagen in einer höheren Liga mitzuspielen. Wenn er trotzdem Kritik am System übt, dann nicht in Bezug auf die Neutralität an sich, sondern bezüglich der schweizerischen Neutralitätspolitik. Seiner Meinung nach müsste die Schweiz sich auf der humanitären Ebene noch viel mehr einsetzen: Wer aus Gründen der Neutralität keine Kriegsgüter liefern könne, solle sich anderweitig stärker engagieren, zum Beispiel bei der Minenräumung, oder durch die Lieferung von dringend benötigten Elektrogeneratoren an die Ukraine. Wichtig sei ausserdem, dieses Engagement zu kommunizieren, damit die einheimische Bevölkerung und die Staatengemeinschaft jederzeit über diese Leistungen informiert seien.

Überhaupt sieht Mark Villiger bei der offiziellen Kommunikation des Bundes noch viel Entwicklungspotenzial. Aber auch den einheimischen Medien, so meint er, sollten solche humanitären Einsätze mehr wert sein als eine Fussnote. Dasselbe gelte für die Berichterstattung über die Leistung Guter Dienste als Vermittlerin, die nach wie vor begehrt seien und entsprechend geleistet, aber der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis gebracht würden. Auch bei der Information über Neutralität mit ihren Rechten und Pflichten an sich sieht Mark Villiger den Bund in der Pflicht: Der Bundesrat müsse in seiner Kommunikation unbedingt proaktiver werden, wenn er wolle, dass die Schweizer Regierung und ihre Haltung in Krisensituationen wie z.B. dem Ukrainekrieg im In- und Ausland verstanden würden.

Neutralitätsbegriff

Eine überwältigende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung teilt Mark Villigers Einschätzung des Werts der Neutralität für die Schweiz. In einer Meinungsumfrage der ETH von 2023 sprachen sich 91% der Befragten für die Beibehaltung der Neutralität aus, was angesichts ihrer identitätsstiftenden Funktion auch nicht weiter überrascht. Allerdings bleibt bei solchen Umfragen jeweils offen, was genau die Befragten unter dem Begriff Neutralität verstehen. Auch die Bundesverfassung, in welcher der Begriff zweimal erwähnt wird, lässt offen, was er beinhaltet, und dies laut Mark Villiger mit gutem Grund: Die Schweiz habe sich völkerrechtlich verpflichtet, neutral zu sein, aber wie genau sie sich innerhalb dieses Konzepts verhalte, sei ihr überlassen, denn ein «inhaltsleerer» Neutralitätsbegriff erlaube maximale Flexibilität sowohl in Friedenszeiten als auch im Konfliktfall. In Friedenszeiten müsse die Schweiz beispielsweise UNO-Sanktionen übernehmen, verfüge daneben jedoch über viel Gestaltungsspielraum. Falls ein Konflikt eskaliere, habe die Regierung völlige Handlungsfreiheit – ja sie könne im äussersten Notfall nach Rücksprache mit den anderen Staaten sogar situativ das Neutralitätsrecht brechen. Eine «Füllung» des Begriffs hingegen würde die Gestaltungsfreiheit unnötig einschränken und dem Bundesrat in einer Notfallsituation die Hände binden.

Neutralitätsinitiative der SVP

Spätestens nach der Lancierung der Neutralitätsinitiative der SVP, welche ihre Definition der Neutralität in der Bundesverfassung verankern will, wird sich die breite Öffentlichkeit in der Schweiz mit dieser Frage befassen müssen. Mark Villiger hat sich bereits jetzt damit auseinandergesetzt und kommt zu folgendem Schluss: Die vorgesehene Neutralitätsdefinition greife einige der rechtlich gegebenen Rahmenbedingungen für neutrale Staaten wie die Schweiz auf. Damit würden zwar lediglich offene Türen eingerannt, aber immerhin könne eine Erinnerung daran in der Abstimmungsdebatte von didaktischem Wert sein. Allerdings sei die Definition unvollständig, denn sie klammere aus abstimmungstaktischen Gründen die Pflichten der Schweiz gegenüber der UNO aus, darunter auch deren Sanktionen. Der Text lasse offen, wie mit Sanktionen anderer Organisationen oder staatlicher Zusammenschlüsse wie z.B. der EU zu verfahren sei. Die UNO-Charta sei heutzutage im Völkerrecht eine Art Weltverfassung, welche Gewalt und Gewaltanwendung regle, und so, wie jede Gemeindeverfassung Teil der Bundesverfassung sei, sei die schweizerische Neutralität als Teil des Völkerrechts auch Teil der UNO-Charta und ihrem Gewaltverbot. Aber die daraus entstehende Verpflichtung zur Übernahme von UNO-Sanktionen gegenüber einem Aggressor in einem «gerechten Krieg» setze die dauernde Neutralität der Schweiz tatsächlich vorübergehend ausser Kraft, wenn auch unumstritten und zum allgemeinen Wohl der Staatenwelt.

Das Handbuch der schweizerischen Neutralität

Das Handbuch der schweizerischen Neutralität bietet einen umfassenden Überblick über Neutralität in Recht und Politik in Vergangenheit und Gegenwart. Bewusst als Handbuch konzipiert, ist es Nachschlagewerk, juristische Abhandlung und Geschichtsbuch in einem und liest sich stellenweise spannend wie ein Roman. Aus dezidiert völkerrechtlicher Perspektive geht es einerseits ein auf die Entwicklung der Neutralität und ihre Geschichte, das Neutralitätsrecht basierend auf den Haager Konventionen mit ihren Rechten und Pflichten, die dauernde Neutralität der Schweiz sowie ihre Neutralitätspolitik im Vergleich zu anderen neutralen Staate wie z. B. Irland, Österreich und Malta. Andererseits analysiert es alle 37 UNO-Sanktionen, an denen sich die Schweiz bisher beteiligt hat – inklusive derjenigen der EU im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine – und geht auf die Peacekeeping-Einsätze der Schweiz ein.

Stéfanie Trautweiler ist Geschäftsleiterin von UNSER RECHT

 

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