Von Dr. iur. René Rhinow. Bereinigte Fassung eines Vortrags vom 09.06.2022.

1. Vorrang der Verfassung

Bei der Ausarbeitung der ersten Bundesverfassung von 1848 lehnte es die Tagsatzung ab, die Neutralität unter den Zwecken des Bundes anzuführen, da man nie wissen könne, ob die Neutralität einmal im Interesse der Unabhängigkeit aufgegeben werden müsse. Wie weise waren unsere Verfassungsväter! Die Schweiz ist völkerrechtlich nicht zur Neutralität verpflichtet; sie kann diese aufgeben. Auch in der aktuellen Bundesverfassung von 1999 figuriert die Neutralität nicht unter den aussenpolitischen Zielen. Die Erwähnung der Neutralität in den Kompetenzkatalogen von Bundesversammlung und Bundesrat hat bloss die Bedeutung, die Zuständigkeiten im Falle einer Neutralität zu regeln.

Die Schweiz hat in erster Linie eine auf die Bundesverfassung abgestützte Aussen- und Sicherheitspolitik zu führen. So hat sich der Bund für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und ihrer Wohlfahrt einzusetzen und namentlich beizutragen zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Dem Bund obliegt es auch, die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland zu wahren und die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen. Das sind nicht immer kongruente, oft auch konfligierende Ziele, die im Rahmen der Aussenpolitik gegeneinander abzuwägen und zu optimieren sind. Insofern ist die Neutralität ein mögliches Instrument, das diesen Zielen dienlich sein kann, aber nicht sein muss.

2. Aussenpolitik – nicht Neutralitätspolitik

Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik sind zu unterscheiden. Letztere umfasst alle Massnahmen, welche die Glaubwürdigkeit der Neutralität sicherstellen sollen. Die dem internationalen Recht fremde Kategorie ist in der Schweiz geboren und aufgebläht worden; sie hat auf weite Strecken als Surrogat einer eigentlichen Aussenpolitik gedient.

Das hat dazu geführt, dass Sicherheitspolitik und Neutralitätspolitik oft synonym aufgefasst wurden. Heute kaum mehr verständlich: Edgar Bonjour hat die Geschichte der Schweiz von 1933 bis 1945 mit Neutralitätsgeschichte überschrieben! Das hat auch damit zu tun, dass in der Geschichte der Schweiz Aussenpolitik ein Fremdwort war, mit Ausnahme der Aussenwirtschaftspolitik natürlich. Man war ja schliesslich neutral.

Dieses Verständnis, dass Aussenpolitik vor allem Neutralitätspolitik sei, schwingt in der aktuellen Diskussion über die Neutralität immer noch mit. Und verfehlt damit auch die eigentliche Dimension der Aussenpolitik, die nicht primär die Neutralität zu schützen, sondern die ihr in der Bundesverfassung vorgegeben Ziele anzustreben hat. Neutralität ist Nicht-Beteiligung im Krieg zwischen Drittstaaten, Neutralitätspolitik ist nur darauf ausgerichtet, die Nicht-Beteiligung an einem Krieg zwischen Drittstatten glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Neutralitätspolitik ist kein eigenständiges Politikfeld, sondern eine Optik, ein mögliches Kriterium oder eine Schranke, welche bei der Sicherheitspolitik zur Anwendung kommen kann. Vieles, was heute unter Neutralitätspolitik abgehandelt wird, hat mit Neutralität wenig oder nichts zu tun. Es ist bequemer, zu fragen, ob eine bestimmtes Handeln mit der Neutralität vereinbar sei, als eigenständig eine aussenpolitische Haltung einzunehmen – nach innen und nach aussen, wohlverstanden. Wie peinlich wirkte kürzlich die verzögerte Übernahme der Sanktionen der EU gegen Russland, die vielerorts als Ergebnis ausländischen Drucks empfunden wurde. Die Schweiz braucht den Mut zur Aussen- und Sicherheitspolitik!

3. Neutralität ist passiv

Neutralität ist Nicht-Beteiligung, Enthaltung, per se etwas passives. Neutralität verzichtet auf Teilnahme an einem Krieg. Alles Aktive ist Aussenpolitik. Was die Schweiz positiv unternimmt, um die verfassungsmässig auferlegten Ziele zu erreichen, gehört zur klassischen Aussenpolitik. Immer wieder wurde und wird fälschlicherweise behauptet,  dass die Neutralität Voraussetzung für eine aktive Friedenspolitik bilde. Wenn die Schweiz trotz oder wegen der neutralen Passivität besondere Anstrengungen unternimmt, um zum Frieden beizutragen, braucht sie keine neutralitätspolitischen Krücken. Das gilt auch für die sog. Guten Dienste, die trotz aller bei uns üblichen und beliebten rhetorischen Höhenflüge nicht an die Neutralität gebunden sind, wie etwa die die aktive Rollen Norwegens und der Türkei als NATO-Staaten belegen. Wesentlich ist vielmehr, dass die Schweiz ein glaubwürdiger Partner ist, erfahren in der Diplomatie und der Vermittlung, ohne hidden agenda, ohne koloniale und imperiale Vergangenheit, ohne jegliche Aggressionsabsichten. Das soll auch so bleiben und ergibt sich auch aus der Bundesverfassung.

Wenn die Neutralität anstelle einer aktiven Aussenpolitik als Grund für ein schweizerisches Engagement ins Feld geführt wird, macht es den Anschein, als ob im Ausland Verständnis für die für Abstinenz der Schweiz geweckt werden soll. Das gilt auch für die Aufpolierung der Neutralität mit Beiwörtern, wie aktive oder nun auch kooperative Neutralität. Die Sicherheitspolitik soll aktiv sein, nicht die Neutralität! Diese wechselnden Zusätze wollen etwas Positives verheissen – aber zeugen sie nicht eher von einem schlechten Gewissen? Stiftet es nicht Verwirrung, wenn die schweizerische Neutralität immer wieder mit Suffixen  neu eingekleidet wird?

4. Abschied vom Mythos der autonomen Verteidigung

Das Neutralitätsrecht setzt im Grundsatz voraus, dass sich Staaten selbst verteidigen können und auch sollen. Deshalb das Diktum der «bewaffneten» Neutralität. Gewiss ist Neutralität eines Staates nur glaubwürdig, wenn dieser über eine Armee verfügt, welche Neutralitätsverletzungen begegnen kann. Die Schweiz hat sich aber primär für eine schlagkräftige  Armee entschieden, weil sie diese für ihre eigene Sicherheit als notwendig erachtet, nicht der Neutralität zuliebe. Offen bleibt aber, welches Ausmass an Bewaffnung vom Neutralitätsrecht vorgeschrieben wird, um die Glaubwürdigkeit der Neutralität zu untermauern.

Dass beinahe alle Nationalstaaten schon seit langem nicht mehr in der Lage sind, sich autonom zu verteidigen, stellt eigentlich eine Binsenwahrheit dar, wurde aber in der schweizerischen Öffentlichkeit während langer Zeit liebevoll verdrängt. Auch die Schweiz ist auf Kooperationen, Rüstungszusammenarbeit und auf eine Interoperabilität angewiesen, die notgedrungen leichtere oder intensivere Parteinahmen mit einschliessen muss. Bereits der Sicherheitspolitische Bericht des Bundes 2000 wurde mit «Sicherheit durch Kooperation» überschrieben! Bei der Abwehr von Langstreckenraketen, beim Einsatz satellitenbasierter Systeme oder bei Nachrichtendiensten ist die Schweiz überfordert. Seit Ende des 2. Weltkrieges profitiert die Schweiz vor allem vom Schutzschirm der NATO, ungeachtet der vorherrschenden Unabhängigkeitsrhetorik. Unsere Sicherheit ist in erster Linie von den europäischen Staaten und der NATO abhängig. Hier hat die Neutralität keinen Platz, jedenfalls nicht, solange unser Umfeld im Rahmen der EU stabil bleibt. Ich erinnere mich an zahlreiche militärische Übungen, wo es galt, den bösen Feind aus dem Osten zu bekämpfen. Von der NATO war nie die Rede, nur vom heldenhaften Kampf ab Landesgrenze mit einstudierten Gegenschlägen.

Wenn die uns umgebende EU und ihre Mitgliedstaaten gemeinsame Massnahmen zur Erhöhung ihrer Sicherheit beschliessen, so ist nicht ersichtlich, wie eine abweichende Haltung der Schweiz unserer Sicherheit zu dienen vermöchte. Das Gegenteil kann der Fall sein. Bereits 1991 stellte der wohl beste Kenner des Neutralitätsrechts, Prof. Dietrich Schindler fest, die militärische Neutralität würde ihre Rechtfertigung weitgehend verlieren, «falls die Schweiz von lauter EG-Staaten umgeben sein wird».

Ich verweise auf einen Text, der im Bericht des Bundesrates zur Neutralität 1993, also vor fast 30 Jahren!, figuriert:

«Die sicherheitspolitischen und technologischen Veränderungen könnten in Zukunft unsere traditionelle, auf Eigenständigkeit beruhende Verteidigungspolitik immer mehr in Frage stellen. Sollte es soweit kommen, dass die Schweiz sich gegen neue Waffensysteme oder neue Bedrohungsformen auf autonomer Basis nicht mehr ausreichend schützen kann, müsste ihre bisherige Sicherheits- und Verteidigungspolitik den veränderten Verhältnissen angepasst werden. Dies betrifft auch das Neutralitätsverständnis.»

Es kommt hinzu: Nach klassischem Neutralitätsrecht darf ein Neutraler mit einer Kriegspartei kooperieren, wenn er selbst angegriffen wird. Erst dann, nicht vorher. Doch wann beginnt heute ein Angriff? Zur Zeit des Haager Rechts begann der Krieg an der Landesgrenze. Abgesehen davon, dass ein modernes Kriegsbild «grenzenlos» ist, stellt sich die Frage, ab wann angesichts des grossen Kooperationsbedarfs ein Neutraler mit einem Staat zusammenarbeiten darf, der möglicherweise einmal Kriegspartei wird.

Nochmals eine Rückschau auf den Neutralitätsbericht 1993:

«Die Neutralität soll die Sicherheit des Landes fördern, nicht die Verteidigungsfähigkeit schmälern. Sie darf den Neutralen nicht daran hindern, die nötigen Vorkehren gegen neue Bedrohungen zu treffen und allfällige Lücken in seinem Verteidigungsdispositiv durch grenzüberschreitende Vorbereitungen der Abwehr zu schliessen.»

Schliesslich übersteigen Konflikte rasch die militärische Dimension und dringen in andere existentielle Politikbereiche ein, wie die aktuelle Entwicklung überdeutlich aufzeigt. Die wirtschaftliche Verflechtung, die Versorgung mit Gütern des täglichen Lebens und mit Rüstungsgütern übersteigt die nationalstaatliche, ja oft die kontinentale  Dimension. Was bedeutet das für die Neutralität?

5. Der Sicherheitswert der Neutralität ist heute zu beurteilen

In der Diskussion wird ausdrücklich oder stillschweigend auf die «bewährte» Neutralität verwiesen. Niemand wird bestreiten, dass in den europäischen Kriegen unser Land – unter anderem – von der Neutralität profitiert hat. Vielleicht müsste man aber anfügen, dass dieser Erfolg auch damit zu tun hatte,  dass man es mit dem Neutralitätsgebot unterschiedlich streng nahm, ja dass man dieses auch ritzte oder zuweilen gar verletzte. In gut schweizerischer Manier, ohne es an die grosse Glocke zu hängen.

Wer heute einen Sicherheitswert der Neutralität behauptet, muss darlegen, unter welchen Voraussetzungen eine kriegsbezogene Neutralität den schweizerischen Interessen zu dienen vermag – und unter welchen dies nicht der Fall ist. Denn eine Neutralität, die den schweizerischen Sicherheitsinteressen widerspricht, kann und darf es nicht geben. Das wurde beispielsweise schon 1999 im Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz (SIPOL B 2000) klar zum Ausdruck gebracht:

«Die Neutralität allein, besonders wenn sie mit einem Verzicht auf sicherheitspolitische Kooperation mit dem Ausland gleichgesetzt würde, genügt nicht, um die Sicherheit der Schweiz zu gewährleisten. … Für die Zukunft ist es wichtig, dass sich die Neutralität nicht zum Hindernis für unsere Sicherheit entwickelt.»

Es ist in Erinnerung zu rufen, dass die Neutralität von den Siegermächten am Wiener Kongress 1815 anerkannt wurde, weil sie auch im Interesse Europas lag. Die schweizerische Neutralität ist eng mit dem konfliktreichen Europa des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verknüpft, sie ist ein europäisches Gewächs. Sie beruhte auf der Vorstellung, dass diese Form der dauerhaften Nichtbeteiligung an einem Krieg von Drittstaaten im Interesse aller liegt, der kriegführenden Parteien in Europa und der Schweiz.

Fehlt es bei einer Partei an diesem Interesse oder verliert sie dieses, wie das etwa beim Überfall des neutralen Belgiens durch Deutschland der Fall war, ist die Neutralität nutzlos. Da stellt sich auch die bedrängende Frage, ob einem Staat, der offensichtlich bereit ist, Völkerrecht massiv zu brechen, vertraut werden kann, künftig die Neutralität zu respektieren?

Neutralität ist umfeld- und kontextbezogen. Sie ist geopolitisch nicht neutral. Wir müssen uns und unsere Nachbarn fragen, wer heute und morgen an der schweizerischen Kriegs-Neutralität ernsthaft interessiert und bereit ist, diese im Kriegsfall ernst zu nehmen. Da könnten wir böse erwachen. Unsere Neutralität ist in erster Linie auf die Interessen anderer europäischer Staaten angewiesen. Sind die Staaten der EU nicht eher an einem Kooperation der Schweiz interessiert als an einem Abseitsstehen?

6. Unsere Neutralität wird, jedenfalls in Europa, kaum mehr verstanden

In den letzten Jahrzehnten haben sich das globale und europäische, insbesondere auch geopolitische Umfeld, das Völkerrecht, die wirtschaftlichen Verflechtungen und die Art der Kriegsführung grundlegend verändert. Wir sind zusammen mit Österreich und Irland bald das einzige – im Sinne des Völkerrechts – neutrale Land der Welt. In der Wissenschaft wird die Neutralität seit langem nicht mehr gepflegt. Das Haager Abkommen ist teilweise veraltet, und das ungeschriebene internationale Recht eher diffus und hinkend. Es ist auch aus dem Bewusstsein der Staatenwelt und internationaler Organisationen verschwunden. Denn es wird nur noch von wenigen Staates angewendet, im Sinne einer dauernden Neutralität sogar nur von der Schweiz und gezwungenermassen von Österreich.

Denn nach der UNO-Charta sind Angriffskriege und Gewaltanwendung verboten, was zur Zeit des Haager Abkommens noch nicht der Fall war. Was bedeutet das völkerrechtliche Angriffsverbot für die Neutralität? Das Abkommen regelt nicht, ob es eine Neutralität im Falle eines gravierenden Bruchs des Völkerrechts durch einen Angriffskrieg überhaupt geben kann.

Anders formuliert: Was heisst «Krieg» im Sinne des Neutralitätsrechts – jeder Krieg? Was bedeutet das Verbot, sich an einem Krieg zu beteiligen, in Bezug auf Wirtschaftssanktionen? Können Sanktionen nicht einschneidender sein als die Lieferung einiger Waffen? Kann die Schweiz bei einem klaren Angriffskrieg neutral sein, bei jedem Krieg, auch gegen Europa? Oder soll sie differenzieren, etwa zwischen Kriegen in- oder gegen Europa, oder zwischen einem groben, gravierenden Angriffskrieg und kleineren bewaffneten Konflikten zwischen Staaten? Der Bundesrat begründete die Übernahme der EU-Sanktionen damit, dass Russland das Völkerrecht bei der Annexion der Krim in geringerem Ausmass verletzt habe als beim Angriff auf die Ukraine. Eine Differenzierung, die dem Völkerrecht fremd ist.

Es zeigt sich gerade bei dieser künstlich anmutenden, in der Praxis kaum umsetzbaren und vor allem nach aussen schwerlich vermittelbaren Unterscheidung, dass das theoretisch und normativ nie aktualisierte internationale Neutralitätsrecht keine oder nur sehr beschränkte Antworten auf das moderne Konflikt- und Kriegsbild zu liefern vermag.

Im europäischen und internationalen Umfeld wird die schweizerische Neutralität diplomatisch-höflich respektiert, aber kaum mehr verstanden, sowohl was ihre Bedeutung, auch was ihre Anwendung betrifft. Dies wurde bei der Übernahme von Wirtschaftssanktionen oder dem Verbot einer Wiederausfuhr schweizerischen Kriegsmaterials deutlich.

7. Entschlackung tut Not

Das Neutralitätsrecht wurde in verschiedenen Gesetzen konkretisiert, ja überkonkretisiert. Eine rechtliche Umschreibung der Neutralität in der Schweiz, erst noch in der Verfassung, wäre grober Unfug, weil sie die Sicherheitspolitik im Ernstfall in Fesseln legen würde. Im Fall der Kriegsmaterialexporte wurde der Handlungsspielraum des Bundesrates über die neutralitätsrechtlichen Gebote hinaus eingeengt, vor allem was die sog. Re- Exporte, die Umschreibung der kriegsrelevanten Güter oder was die Dual-Use Güter betrifft. Die Wiederausfuhr-Bewilligung hat mit Neutralität nichts zu tun. Die Schweiz ist auf Rüstungsgüter aus dem Ausland angewiesen, so wie andere Staaten an Produkten in der Schweiz interessiert sind. Eigentlich ist es paradox: Einerseits ist die eigene Rüstungsindustrie Voraussetzung der bewaffneten Neutralität, anderseits soll diese ein Verbot von Waffenlieferungen rechtfertigen.

Je enger Verbote erlassen und Auslegungsspielräume eingeengt werden, desto unglaubwürdiger wird die Neutralität im Ausland wahrgenommen, und umso mehr entstehen in der Praxis Widersprüche. Wie ist denn zu begründen, dass schusssichere Westen kriegsrelevant sind, Überflüge von Militärflugzeugen, die einem humanitären Zweck dienen, aber nicht? Kann ernsthaft behauptet werden, Verbandsmaterial sei nicht kriegsrelevant? Warum wird die Ausfuhr von Kriegsmaterial nicht auf eigentliche Waffen beschränkt? Güter zu Schutz von Leib und Leben sind vom Haager Abkommen nicht erfasst. Der Terminus «kriegsrelevant» ist zu verabschieden, denn was ist in einem modernen Krieg nicht relevant?

Angesichts der geopolitischen Unsicherheiten ist vor einer übermässigen Verrechtlichung der Sicherheitspolitik zu warnen. Diese muss primär in der Verantwortung des Bundesrates und der Bundesversammlung liegen. Die Ausfuhrbewilligung ist auf eigentliche Kriegsgeräte, insbesondere auf Waffen, die unmittelbar dem Kampf dienen, zu beschränken.

8. Verzicht auf die Dauerhaftigkeit der Neutralität

Die schweizerische Neutralität ist dauerhaft, ja «immerwährend». Die Schweiz ist  das einzige Land auf der Welt, das diesen Sonderfall der Neutralität gewählt hat. Diese unterscheidet sich von der gewöhnlichen Neutralität etwa Schwedens oder Irlands dadurch, dass sie für alle künftigen Kriege gelten soll. Heute ist angesichts des diffusen Kriegsbildes und der ungewissen geopolitischen Umbrüche zu fragen, welchen Sicherheitswert die auf Kriege zwischen Nationalstaaten bezogene, selbstgewählte dauerhafte Neutralität der Schweiz heute und in Zukunft aufweist. Soll die Schweiz weiterhin ein globales Neutralitätsversprechen in eine ungewisse Zukunft hinein abgeben, ungeachtet Lage des Völkerrechts, der möglichen Konflikte und der Konfliktparteien? Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass die Schweiz bei einem Angriff auf Europa  oder ein benachbartes Land abseits stehen könnte, denn dann wäre ihre eigene Sicherheit offensichtlich und unmittelbar bedroht. Bereits heute wird mit gutem Grund die Auffassung vertreten, der barbarische und krass völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine bilde einen Angriff auf die Werte Europas und damit auch der Schweiz.

Hierzulande wird die Unterscheidung zwischen gewöhnlicher Neutralität und der «dauerhaften» der Schweiz kaum näher thematisiert. Ein Verzicht auf die Dauerhaftigkeit würde der Schweiz gestatten, grundsätzlich neutral zu sein, aber je nach Konflikt darauf zu verzichten, wenn dies für ihre Sicherheit unausweichlich erscheint, beispielswese, indem sie mit der NATO eine engere Zusammenarbeit eingeht. Die Möglichkeit eines Verzichtes vermöchte ihr auch einen aussen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum zu verschaffen, auf den sie angesichts der ungewissen Entwicklung der Bedrohungsszenarien angewiesen ist. Eine alte Weisheit ist in Erinnerung zu rufen: je ungewisser und komplexer die Entwicklung, desto wichtiger wird die Handlungsfreiheit. Ein Übergang zur gewöhnlichen Neutralität kann vom Bundesrat mit Einwilligung der eidgenössischen Räte erklärt werden.

Wie weitsichtig war der sicherheitspolitischen Bericht 2000:

«Das Festhalten an der dauernden Neutralität wird somit selbst bei der grösstmöglichen Ausnützung des neutralitätsrechtlichen Spielraums auch in Zukunft dahingehend zu hinterfragen sein, ob dieses Element unserer sicherheitspolitischen Strategie auch im 21. Jahrhundert geeignet ist, die aussen- und sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz bestmöglich wahrzunehmen.»

9. Kein absoluter Verzicht auf die Neutralität

Ich schlage deshalb vor, dass die Schweiz auf die Dauerhaftigkeit ihrer Neutralität verzichtet und zur gewöhnlichen Neutralität übergeht, einer auf ihren völkerrechtlichen Kern reduzierte, im Inland «entschlackte» Neutralität als «Kriegs-Neutralität» unter dem Vorbehalt aussen- und sicherheitspolitischer  Interessen der Schweiz.

Mein Plädoyer für eine gewöhnliche Neutralität trifft sich mit dem Umstand, dass die Neutralität in der Schweiz eine grosse Beliebtheit geniesst. Das hat vor allem mit drei Faktoren zu tun: einmal handelt es sich um eine eher diffuse Vorstellung von Neutralität, vielleicht am einfachsten zu übersetzen mit «Sich im ureigenen Interesse nicht unnötigerweise in fremde Händel mischen». Sie knüpft so zweitens an die geschichtlichen Erfahrungen mit dem «Stillsitzen» an, die uns in den Genen zu liegen scheint. Und drittens ist diese Tradition quasi verlängert worden mit dem Erfolg der Neutralität in den grossen europäischen Kriegen. Der Stellenwert der Neutralität in der heutigen Zeit wurde in der Öffentlichkeit kaum hinterfragt, sodass ein eigentliche Diskussion über ihre Tragweite nicht stattfand. Vor allem haben es die Behörden und Parteien unterlassen, die bereits seit den 90er-Jahren praktizierte und problematisierte Neutralität zu thematisieren. Es dürfte sich empfehlen, auf die Beliebtheit einer wie auch immer verstandenen Neutralität Rücksicht zu nehmen, als Traditionsanschluss. Ein Übergang zur gewöhnlichen Neutralität würde an der kriegsbezogenen Kernidee auch unter massiv veränderten Bedingungen im Grundsatz festgehalten, ihre Sicherheit aber im europäischen Kontext verankern und der Schweiz die notwendige Handlungsfreiheit verschaffen. Auch gegenüber dem Ausland soll der Eindruck vermieden werden, die Schweiz habe ihr Sicherheitskonzept grundlegend verändert und die Neutralität definitiv abgeschafft.

Ausdruck einer klugen Aussenpolitik des (politischen) Kleinstaates ist es, sich überlegt, wertebezogen und unter Wahrung der eigenen Interessen auf dem internationalen Parkett zu bewegen.  Die Schweiz geniesst einen guten Ruf, insoweit sie als Land ohne hidden agenda auftritt, als Land, das nie einen Krieg begonnen hat und dies auch nicht tun wird, das bereit ist, sich für Vermittlung und gute Dienste einzusetzen, so dies erwünscht ist, und das sich international für Frieden, Menschenrechte, Entwicklung und Sicherheit engagiert.

10. These – eigentlich eine Hoffnung: Neutralität zur Reflexion über Europa

Wir diskutieren über die Neutralität. Doch eigentlich steht hinter oder besser über dieser sicherheitspolitischen Thematik eine essentielle Herausforderung für die Schweiz: Wie sieht sie ihre Stellung in Europa? Weist die Diskussion über die Neutralität nicht auch Züge einer Stellvertreterdiskussion auf? Oder pointierter formuliert: Kann die aktuelle Diskussion dazu beitragen, von der Lebenslüge einer unabhängigen Schweiz abzurücken und ebenso realitätsbezogen wie zukunftsoffen über die Chancen einer selbstbewussten und aktiven Schweiz in Europa nachzudenken? Das ruft nach einer aktiven Aussenpolitik, die sich nicht hinter den Mythen der Unabhängigkeit und dem Nebel der Neutralität verstecken kann. Und das Bekenntnis zu einer  aktiven Schweiz in und mit, nicht gegen Europa. «Unsere Heimat ist die Schweiz. Die Heimat der Schweiz ist Europa» (Peter von Matt)

 

Zum Autor:

René Rhinow, Dr. iur., ist em. Professor für öffentliches Recht an der Universität Basel. Von 1987 bis 1999 war er Ständerat (FDP/BL), im letzten Jahr auch Ständeratspräsident.

 

* Bild: VBS/DDPS – Jonas Kambli, Lizenz CC BY-NC-ND


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