Zuschrift an die NZZ von Mark Villiger, Strassburg, ehem. Richter für Liechtenstein am EGMR (erschienen am 26.2.16, S. 11):

In seinem Leserbrief (NZZ 16. 2. 16, siehe unten) verbreitet Hans-Peter Müller das alte Vorurteil, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) «ohne Bezug auf nationale gesellschaftliche Realitäten» und «völlig strukturblind» entscheide. Er bezieht sich dabei auf das Urteil im Fall «Di Trizio c. Suisse» vom 2. 2. 16, in welchem es um Diskriminierung in der schweizerischen Invalidenversicherung ging.

Hätte Hans-Peter Müller sich informiert, wüsste er, a) dass dem Gerichtshof bei der Urteilsfindung die gesamte innerstaatliche Akte vorliegt; und b) dass es just der Vertretung der Eidgenossenschaft im Strassburger Verfahren obliegt, im jeweiligen Fall den Gerichtshof über «gesellschaftliche Realitäten» in der Schweiz aufzuklären (was die Vertretung im Übrigen immer wieder bestens tut).

Hätte Müller ferner noch fünf Minuten Zeit dafür verwendet, einen Blick in das Urteil Di Trizio zu werfen, hätte er gesehen, dass der Gerichtshof darin den «gesellschaftlichen Realitäten» breitesten Raum widmete: 111/2 von insgesamt 42 Urteilsseiten sind nämlich der einschlägigen schweizerischen Rechtspraxis gewidmet. Im Übrigen sind die meisten Urteile des Gerichtshofs im Internet mit zwei bis drei Klicks abrufbar.”

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Die Zuschrift von Hans-Peter Müller (Uitikon), auf die Mark Villiger sich bezieht:

“Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erhebt den Vorwurf der Frauendiskriminierung gegen das IV-System der Schweiz (NZZ 3. 2. 16). Es benachteilige die Frauen, die wegen der Familie Teilzeit arbeiteten. Damit hebelt der EGMR schweizerische Vorstellungen darüber aus, wer unter welchen Bedingungen wie viel Unterstützung durch die Öffentlichkeit erwarten darf. Das Gericht urteilt völlig strukturblind, das heisst ohne Bezug auf das fein austarierte institutionelle und steuerliche Regelwerk unseres Landes, aber auch ohne zu fragen, wie und von wem die Mittel dazu aufgebracht werden.

Wie in allen europäischen Ländern findet auch in der Schweiz die Diskussion um den Stellenwert der Erziehungs- und Hausarbeit statt. Die Gangart und Richtung dieser Diskussion zu bestimmen, ist aber nicht Sache einer Handvoll Richter in Strassburg, sondern soll Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen (ökonomischer, sozialer, kultureller Art) in jedem Land sein. Die Schweiz steht uneingeschränkt hinter dem Prinzip der Gleichstellung der Geschlechter. Dieses Prinzip wird nun aber durch den EGMR so extensiv interpretiert, dass lokale/nationale Interpretationen keinen Platz mehr haben. Wir haben es sozusagen mit der Umkehrung der Problematik der Durchsetzungsinitiative zu tun: Diese will richterliche Entscheidungsbefugnis (in einem bestimmten Rechtsbereich) aufheben; der EGMR hebt die landesspezifische Umsetzung von Menschenrechtsprinzipien auf.

Indem man das vorliegende Urteil an die Grosse Kammer des EGMR weiterzieht, wird die entscheidende Frage der Zuständigkeit nicht gelöst. Erneut würde eine externe Interpretation von allseits anerkannten Grundsätzen vorgenommen, wiederum ohne Bezug auf nationale gesellschaftliche Realitäten. In Fällen wie dem vorliegenden ist das Bundesgericht am besten in der Lage, eine menschenrechtskonforme und kontextbezogene Beurteilung abschliessend vorzunehmen.”

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Zwei weitere am 16.2.16 veröffentlichte Zuschriften zu diesem Urteil:

“Mit der Invaliditätsbemessung für Teilzeitbeschäftigte, der sogenannten gemischten Methode, hat die Invalidenversicherung seit Jahren die Frauen systematisch benachteiligt. Ebenso lange ist diese manifeste Ungerechtigkeit in der Schweiz – bisher leider vergeblich – kritisiert worden. Neun Jahre nach Einreichung der Beschwerde hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) endlich Klartext gesprochen und diesen Fehler gerügt. Es ist nicht zu hoffen, dass die offizielle Schweiz mit einem Weiterzug dieses richtigen Urteils an die Grosse Kammer des EGMR alle Frauen vor den Kopf stösst. Weitere Jahre dieser falschen Praxis mit oft stossender Sachverhaltsabklärung würden damit ins Land ziehen. Das darf nicht sein.”

Thomas Laube, Olten Rechtsanwalt

“Der EGMR hat entschieden, dass Teilzeitarbeitende mit Familie in der IV diskriminiert werden. Wie Katharina Fontana in ihrem Artikel richtig schreibt, ist der Strassburger Gerichtshof kein Sozialversicherungsgericht. Er kann der Schweiz deshalb nicht vorschreiben, welche Leistungen die IV erbringen muss. Das Bundesgericht muss nun aber sicherstellen, dass mit seiner Rechtsprechung keine Bevölkerungsgruppen mehr benachteiligt werden.

Es geht also nicht um einen Ausbau der IV, sondern um die Gleichbehandlung aller Versicherten, wie es das Invalidenversicherungsgesetz (IVG) selber und auch unsere Verfassung verlangt. Die Invalidenversicherung in der Schweiz ist eine Volksversicherung.

Die heutige Praxis des Bundesgerichts berücksichtigt nicht die tatsächliche Leistungseinbusse wegen einer Krankheit oder eines Unfalls, sondern führt dazu, dass eine Mutter nach der Geburt ihres Kindes mit einem Rentenverlust rechnen muss. Hätte die Frau im EGMR-Fall gesagt, sie würde auch ohne gesundheitliche Einschränkungen gar nicht mehr arbeiten und sich ganz der Kinderbetreuung widmen, hätte sie weiterhin Anspruch auf eine IV-Rente gehabt. Das ist doch paradox.

Die gemischte Methode der Invaliditätsbemessung zeitigt für den Staatshaushalt kaum einen Spareffekt. Häufig müssen nämlich vor allem Alleinerziehende zur Sozialhilfe, wenn sie aus der IV herausfallen. Andererseits muss man sich gut überlegen, ob es nachhaltig effizient ist, gerade bei den Familien zu sparen, aus denen die späteren Beitragszahler hervorgehen.”

Andrea Mengis, Olten Rechtsanwältin Procap Schweiz

 

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