Eine Improvisation ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, aber als Einladung, Argumente beizutragen:

China und Russland betrachten die Art, wie Regierung, Sicherheitsapparat und Justiz mit den Menschen in ihrem Land umgehen, als innere Angelegenheit. Kritik aus dem Ausland und erst recht Sanktionen weisen sie als Einmischung in innere Angelegenheiten zurück.

Die Sowjetunion, in deren Rechtsnachfolge Russland steht, war Gründungsmitglied der Vereinten Nationen. Deren Vollversammlung nahm am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ohne Gegenstimme an. Die Sowjetunion, die Ukraine, Weissrussland, Polen, die CSSR, Jugoslawien, Saudiarabien und Südafrika enthielten sich jedoch der Stimme. Die Volksrepublik China ist seit 1971 Mitglied der UNO.

Russland wurde in den Europarat aufgenommen, anerkannte damit auch die Verbindlichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Russland hat aber “am 15. Dezember 2015 ein Gesetz verabschiedet, wonach der russische Staatsgerichtshof zukünftig darüber entscheiden kann, ob Urteile internationaler Gerichte umgesetzt werden oder nicht. Künftig soll das Verfassungsgericht auf Antrag darüber befinden, ob ein auf internationaler Ebene gefälltes Urteil zu Russland gegen die russische Verfassung verstösst. Das Gesetz richtet sich vor allem gegen Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Es bedeutet, dass Russland die Entscheide des EGMR künftig nicht mehr als bindend betrachtet” (humanrights.ch, Link).

Aus einem Fact Sheet “Menschenrechte in der Volksrepublik China” der Deutschen Bundeszentrale für politische Bildung (Link):

“Die Position der amtierenden chinesischen Führung ist durch folgende zentrale Charakteristika gekennzeichnet:

  1. Menschenrechte sind vom Staat verliehen und geschützt.
  2. Individuelle Rechte dürfen weder die Rechte anderer Bürger noch die Interessen der Gesellschaft und des Staates verletzen.
  3. Rechte sind mit Pflichten gegenüber der Gesellschaft und dem Staat verbunden (Artikel 50ff. der chinesischen Verfassung).

Zwei Merkmale haben unter der Administration von Xi Jinping eine andere Nuance bekommen: Die Universalität der Menschenrechte hat Peking bis dato “respektiert”, wenn auch in Abhängigkeit von “nationalen Besonderheiten” – zum Beispiel wird aufgrund des selbst empfundenen Status eines Entwicklungslandes das Streikrecht eingeschränkt. Mit dem sogenannten Parteidokument Nr. 9 stellt China diese Universalität nun jedoch grundsätzlich infrage: Konzepte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte seien Teile eines westlichen Wertesystems. Mit diesem wollten ausländische Regierungen die Herrschaft der KPC untergraben, so das Dokument.

Das Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder in Bezug auf die Menschenrechtslage hält China nicht mehr stringent ein. Bereits seit 2001 publiziert die chinesische Regierung regelmäßig Weißbücher über die Lage der Menschenrechte in den USA. Diese sind eine Reaktion auf die jährlichen Dokumentationen über Menschenrechtsverletzungen in China durch das US-Außenministerium (State Department). Diese Strategie zielt auf die eigene Bevölkerung: Westliche Länder, jüngst im Zug der Flüchtlingskrise auch Europa, werden einer Doppelmoral bezichtigt. Damit soll vor allem an den nationalen Stolz der chinesischen Bevölkerung appelliert werden.”

2020 bis 2023 gehören Russland und China dem Menschenrechtsrat der UNO an.

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Die Zurückweisung von “Einmischung in innere Angelegenheiten” ist die Abwehrwaffe – aber verbunden mit “Angriff ist die beste Verteidigung”: China und Russland erheben den Anspruch, elementare Menschenrechte (im Sinne der Maslowschen Bedürfnispyramide) wie die Rechte auf genügende und gesunde Ernährung, auf Gesundheit, Bildung, Arbeit und neuerdings auch persönliche Sicherheit (“Black Lives Matter”) besser zu schützen als die Staaten mit dem westlichen Verständnis der Menschenrechte.

Fortschritte vor allem Chinas in wichtigen sozialen Bereichen seien anerkannt. Hingegen ist das Ausspielen der Sozialrechte gegen die Freiheitsrechte eine durchsichtige Strategie: Verweigert eine politische Führung die Freiheit zur journalistischen und wissenschaftlichen Recherche, Analyse und Kritik, und verweigert sie auch die Freiheit zur Diskussion der Verhältnisse und ihrer Ursachen, stellt sie Veränderungsforderungen unter Strafe, verunmöglicht sie die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Erfolge, die sie geltend macht. Unterlassungen, Fehlleistungen, Korruption können unentdeckt bleiben und andauern. Kommt es dann und wann zu einer Antikorruptions-Kampagne, lässt sich nicht beurteilen, ob sie sich wirklich gegen Korruption richtet oder nur gegen Machtrivalen.

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Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem Eindruck fürchterlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für kurze Zeit waren die meisten Staaten damit einverstanden – oder wagten keinen Widerspruch -, dass es künftig Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sei, die Menschenrechte zu schützen.

Achtung, Schutz oder Verletzung der Menschenrechte ist auch deshalb keine bloss innere Angelegenheiten, weil die Art des Umgangs mit den Menschen in einem Land in einem Zusammenhang steht mit dem Verhalten eines Landes gegen aussen. Einer Regierung, die sich und ihr Handeln, ihre Pläne hinterfragen, diskutieren, verwerfen lassen muss, fällt es schwerer und ist es vielleicht gar unmöglich, ihr Volk auf einen riskanten und kostspieligen Aggressionskurs zu zwingen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es autoritären Herrschenden unmöglich wäre, grosse Teile des Volkes hinter sich zu bringen. Dies scheint derzeit in China und Russland durchaus der Fall zu sein.

Ulrich Gut.

 

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