Am 13. Juni stimmen wir über das Covid-19-Gesetz ab. Die Gruppe, die gegen dieses Gesetz das Referendum ergriff, hält die Freiheitsbeschränkungen aufgrund dieses Gesetzes für durchweg grundrechts- und verfassungswidrig. Weil sie nutzlos und schädlich seien, auf nachweislich widerlegten Annahmen beruhten, könnten sie weder verhältnismässig sein noch im öffentlichen Interesse liegen. Sie seien willkürlich. (Mehr dazu hier.)

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie gab aber auch Anlass, für ein ganz anderes Verständnis des Verhältnismässigkeitsgebots einzutreten. Auszug aus einem Artikel, den vier Berner Professoren und Professorin des öffentlichen Rechts an der Universität Bern, Markus Kern, Jörg Künzli, Markus Müller und Judith Wyttenbach, am 12. Januar 2021 in der NZZ veröffentlichten (Link):

«Die Verfassung (…) stellt (…) den Verantwortlichen für die ‹Wegsuche› und Interessenabwägung einen Kompass zur Verfügung: das Verhältnismässigkeitsgebot (Art. 5 Abs. 2 BV). Dieses rückt immer wieder ins Zentrum der Corona-Debatte, wird fälschlicherweise aber meist nur angerufen, wenn es darum geht, staatliches Handeln in die Schranken zu weisen. Nun wäre dieses rechtsstaatliche Metaprinzip freilich falsch verstanden, wenn darin nur ein Instrument zur Disziplinierung staatlichen Handelns gesehen würde. Es darf nicht nur als Handlungsbremse, als Einladung zur staatlichen Zurückhaltung, zum Zaudern oder zur Rücksichtnahme auf sämtliche Sonderinteressen verstanden werden. Zwar fordert das Verhältnismässigkeitsgebot Milde in Auswahl und Zuschnitt staatlicher Massnahmen, setzt gleichzeitig aber auch voraus, dass die erwähnten verfassungsrechtlichen Ziele, namentlich der Schutz verletzlicher Personen und das Funktionieren der Gesundheitsinfrastruktur, tatsächlich erreicht werden. Insoweit wohnt ihm auch eine Handlungspflicht inne.

In der gegenwärtigen Krisensituation erscheinen drei Handlungsbedingungen besonders bedeutsam: Erstens muss rasch und effektiv gehandelt werden. Dies erlaubt – entgegen den helvetischen Gepflogenheiten – unter diesen Umständen keine langwierigen demokratisch-föderalistischen Entscheidfindungsprozesse. Es mag kontraintuitiv anmuten, aber angesichts des exponentiellen Charakters der Pandemie ist ein frühes, einschneidendes Intervenieren eher verhältnismässig als eine späte, milde Reaktion. Auch die von der Politik konsultierten Wirtschaftsexpertinnen vertreten überwiegend die Auffassung, wonach harte Massnahmen selbst für die Wirtschaft letztlich weniger schädlich sind, weil sie weniger lange aufrechterhalten werden müssen.

Zweitens steht der Bundesrat als ‹oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes› (Art. 174 BV) prioritär in der Pflicht. Nur einheitliches, transparentes und verbindliches Handeln aus einer Hand vermag in der Bevölkerung Vertrauen und Akzeptanz zu schaffen, zwei zentrale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Krisenbewältigung. Für ein einheitliches Vorgehen sprechen auch die Kleinräumigkeit des Landes, die hohe Mobilität und der starke Druck der Partikulärinteressen in den Kantonen.

Drittens sollte das Suchen nach verhältnismässigen Lösungen stets begleitet sein von einer gewissen Fehlertoleranz. Wer gestützt auf eine labile Faktenlage beurteilen muss, welche Massnahmen verhältnismässig sein könnten, muss Prognosen anstellen. Und Prognosen sind fehleranfällig. Krisenbewältigung ohne Fehler ist daher unmöglich.

Nach dem Gesagten kann verhältnismässiges und verfassungskonformes Handeln für die nächste Zukunft nur eines bedeuten: Der Bundesrat muss den im Sommer (2020) eingeschlagenen Mittelweg verlassen und den gegenwärtigen «Schwelbrand» löschen. Die hohen Infektionszahlen, Todesfälle, schweren Erkrankungen und drohenden Langzeitfolgen, die Belastung der Gesundheitsinfrastruktur, die chronifizierte Wirtschaftskrise, die neuen Bedrohungen durch mutierte Viren usw. verlangen ein deutlich rascheres, entschlosseneres und einschneidenderes Handeln. (…)»

Siehe auch:

Markus Müller: «Verhältnismässigkeit: Vom Kampf zur Ordnung» (ZBl. 3/2021)

 

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