Das Zürcher Obergericht urteilte kürzlich, ein Deutscher, der wegen eines “Katalogdelikts” des neuen Ausweisungsrechts zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, dürfe nicht ausgewiesen werden: Das Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU gehe vor, und die Voraussetzung für die Aufhebung seines Freizügigkeitsanspruchs, eine “gegenwärtige und hinreichend schwere, das Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr für die öffentliche Ordnung», sei nicht gegeben. Die Oberstaatsanwaltschaft zieht das Urteil ans Bundesgericht weiter.

Auszug aus dem Bericht von Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 13.10.2017 (Link):

“(…) Neben der bedingten Freiheitsstrafe ordnet das Bezirksgericht auch eine Landesverweisung für fünf Jahre an; der Angriff gehört zu den Katalog-Straftaten, die zu einer obligatorischen Landesverweisung führen, ausser, es liege ein Härtefall vor. Der deutsche Straftäter akzeptiert die Strafe, geht jedoch wegen der Landesverweisung in die Berufung – mit Erfolg. Das Obergericht des Kantons Zürich kommt zu der Auffassung, es dürfe im konkreten Fall keine Landesverweisung ausgesprochen werden; nicht etwa, weil ein Härtefall vorliege, sondern wegen des Freizügigkeitsabkommens.

Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei die Frage, ob das Völkerrecht gegenüber dem Bundesrecht (in diesem Fall die neue Strafrechtsnorm über die Landesverweisung) Vorrang geniesse. Das Obergericht bejaht die Frage, und zwar mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts: Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung gehe grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung vor. Von dieser Regel wich das höchste Gericht in früheren Fällen ausnahmsweise dann ab, wenn der Gesetzgeber bewusst gegen das Völkerrecht verstossen wollte, die damit verbundenen Folgen besprochen und in Kauf genommen hatte.

Diese Ausnahme greift gemäss Bundesgericht jedoch nicht, wenn es um die Personenfreizügigkeit der Schweiz mit den Ländern der EU und der Efta geht. Ob das höchste Gericht mit dieser wichtigen Aussage allerdings eine verbindliche Rechtsauffassung äussert oder ob es sich lediglich um eine Nebenbemerkung (ein «obiter dictum») handelt, ist in der Rechtslehre umstritten.

In einem zweiten Schritt prüft das Obergericht, ob der deutsche Straftäter, gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen, des Landes verwiesen werden darf. Es verneint dies, weil gemäss Abkommen eine Beschränkung des Aufenthaltsrechts nur dann zulässig ist, wenn eine «tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt», welche ein «Grundinteresse der Gesellschaft» berühre. Solche Beschränkungen seien eng auszulegen, so das Obergericht: «Sie lassen sich nur unter qualifizierten Voraussetzungen rechtfertigen.» (…)

In einer Gesamtbetrachtung beurteilt das Obergericht im konkreten Fall die Landesverweisung als nicht vereinbar mit dem Freizügigkeitsabkommen: «Es liegt keine gegenwärtige und hinreichend schwere, das Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr für die öffentliche Ordnung vor.» Das Urteil dürfte schweizweit zu reden geben, und das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde erhoben und zieht den Fall vor Bundesgericht. (…)”

 

 

 

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