Zwar darf das Parlament weder Gesetze erlassen noch Staatsverträgen zustimmen, die materiell die Verfassung verletzen oder ändern. Aber es kann dies wirksam tun, denn „Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend“ (Art. 190 der Bundesverfassung). Die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit wurde bekanntlich immer wieder abgelehnt. Das Bundesgericht darf nur die Grundrechte, die zugleich in der Bundesverfassung und in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert sind, vor gesetzlichen Übergriffen schützen. 2016 lehnte der Nationalrat eine Motion zur Einführung einer eingeschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit zugunsten der Kantone ab (Link zur diesbezüglichen Motion des damaligen Nationalrats, heutigen Ständerats Andrea Caroni).

Nun beschloss der Ständerat als Erstrat, dass Staatsverträge mit Verfassungsrang dem obligatorischen Referendum und damit dem Ständemehr unterstellt werden sollen (Link zum Entwurf des Beschlusses).

Der ursprüngliche Sinn des Ständemehrs besteht darin, die Kompetenzen der Kantone zu schützen und ihnen – unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl – Mitbestimmung bei der Einführung oder Erweiterung von Bundeskompetenzen zu geben*. Allerdings enthält die Bundesverfassung keine Einschränkung auf Verfassungsänderungen kantonsrelevanten Inhalts: Jede Verfassungsänderung untersteht dem Ständemehr. Folglich unterstünde auch jeder Staatsvertrag mit Verfassungsrang dem Ständemehr, unbesehen, ob und wie er die Kantone betrifft. Ständerat Andrea Caroni, auf dessen Motion die Revisionsvorlage zurückgeht, bemerkte hierzu, Staatsverträge aller Art könnten für die Kantone relevant sein, weil ihre Umsetzung oft Kostenfolge für sie habe.

Es ist durchaus möglich, dass bei der Anwendung eines solchermassen erweiterten Staatsvertragsreferendums kantonale Interessen diskutiert würden. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist aber, dass rechts-, aussen- und allgemeinpolitische Grundsatzdebatten geführt würden und den Ausschlag für den Ausgang der Abstimmung gäben.

Der Regierung unseres an rechtlich geregelten internationalen Beziehungen interessierten Kleinstaats könnte es in der Folge schwerer fallen, sich für die Schaffung oder Weiterentwickluing internationaler Vereinbarungen einzusetzen. Sie müsste damit rechnen, dass eine Mehrheit konservativer Kantone nach abgeschlossenen Verhandlungen die Beteiligung der Schweiz am Vertragswerk verhindern würde.

Es sei daran erinnert, dass 2012 eine Volksinitiative der AUNS unter dem Titel „Staatsverträge vors Volk!“ mit Dreiviertelsmehr des Volkes und allen Standesstimmen abgelehnt wurde (Link zum Initiativtext, Link zum Abstimmungsergebnis).

Ulrich Gut.

*   Im „Schweizerischen Bundesstaatsrecht“ (Häfelin, Haller, Keller, Thurnheer, 10. Auflage) lesen wir zum Ständemehr: „Die Kantone sind an der Willensbildung des Bundes beteiligt. Als wichtigste Form steht ihnen die Beteiligung an der Verfassungsgebung des Bundes zu: Die Bundesverfassung kann nicht gegen den Willen der Mehrheit der Kantone abgeändert werden (Art. 140 Abs. 1 lit. a und Art. 195 BV). Jede Begründung von Bundeskompetenzen bedarf der Zustimmung der Mehrheit der Kantone. Die Kantone haben also ein Mitwirkungsrecht bei der Umschreibung der bundesstaatlichen Kompetenzenordnung. N. 939.“ – „Im Ergebnis hat das Ständemehr dabei vor allem die ländlich-konservativen Kantone der Inner- und Ostschweiz bevorzugt – auf Kosten bevölkerungsreicher Kantone mit grösseren städtischen Agglomerationen wie Bern, Genf, Waadt und Zürich“ (a.a.O, N. 1796).

Das Ständemehr war beim Erlass der ersten Bundesverfassung 1848 eines der politischen Instrumente, um die katholisch-konservativen Kantone nach ihrer Niederlage im Sonderbundskrieg mit dem neuen Bundesstaat auszusöhnen und sie in diesen zu integrieren. (Link zum Beitrag „Sonderbund“ des Historischen Lexikons der Schweiz.)

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