Grusswort des Präsidenten des Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats, Alec von Graffenried (Mitglied des Vorstands von “Unser Recht”), am Schweizerischen Richtertag, 28.11.2014 in Luzern

Was ist die wichtigste Standortqualität der Schweiz?

Was ist die schweizerische USP, die Unique Selling Proposition?

Welche Eigenschaft macht unser Land attraktiv als Wohnort, als Arbeitsort, als Wirtschaftsstandort?

Weshalb investieren so viele Personen aus dem Ausland in der Schweiz, warum haben wir eine so hohe Zuwanderung?
Welche politisch beeinflussbare Qualität ist die meistgenannte und geschätzte Qualität der Schweiz?

Es ist die Stabilität, unseres Landes, es ist die die Rechtssicherheit, es ist die Rechtsstaatlichkeit.

Wir haben klare Regeln, wir haben viele Regeln, und wir wenden diese Regeln auch an. Sie gelten für alle und für alle gleich, sie sind ein wichtiger Pfeiler unseres demokratischen Rechtsstaats. Eben, unsere USP.

Wer garantiert die Rechtssicherheit? Natürlich Sie alle, Sie sind die Justiz, Sie sind die Judikative, Sie sind demokratisch gewählt, Sie stehen ein für den demokratischen Rechtsstaat, Sie verkörpern ihn in gewisser Weise, Sie sind der Rechtsstaat.

Es ist aber klar, dass alle drei Staatsgewalten ihren Anteil zur Gewährleistung der Rechtssicherheit leisten müssen. Das leuchtet ohne weiteres ein für die Regierung und die Verwaltung. Aber auch wir in der Legislative können durch unklare, schwache, zu häufige Gesetzgebung die in Jahrzehnten seriöser Arbeit aufgebaute Stabilität und Rechtssicherheit in der Schweiz untergraben.

Ich weiss nicht, ob wir im Parlament in den letzten Jahren unseren Auftrag zur Stärkung der Rechtssicherheit in der Schweiz in guter Weise wahrgenommen haben. Ehrlich gesagt plagen mich hier eher gewisse Zweifel. Das politische Geschäft ist kurzatmiger geworden und kurzlebiger, wir suchen den raschen Erfolg und verlieren die langfristige Perspektive aus den Augen. Das Bundesamt für Justiz hat mir eine Zusammenstellung angefertigt der Kadenz der Gesetzgebung. Daraus ist ersichtlich, dass der Takt der Gesetzgebung seit anfangs der 90er Jahre erheblich zugenommen hat, die statistische Kurve steigt seit 1990 bedrohlich an. Wenn aber das Rechtssetzungskarussell immer schneller dreht, bleibt die Rechtssicherheit notgedrungen auf der Strecke.

Sie kennen das ja alle bestens, z.B. vom Strafgesetzbuch her. Der Allgemeine Teil, das Sanktionenrecht wurde 2003 nach jahrzehntelanger Vorarbeit revidiert, dann vor der Inkraftsetzung 2007 noch einmal zwischenrevidiert. Bereits ein Jahr nach Inkraftsetzung begann die Kritik am AT, und 2012 wurde eine neue Revision eingeleitet, die jetzt im Parlament in der zweiten Runde steht, vorgestern hielt der Ständerat teilweise an seinen Ideen fest, Sie konnten das in der Zeitung lesen. Die Evaluation der Reform hat zwar ergeben, dass kein Handlungsbedarf für eine neuerliche Revision besteht, aber das interessierte zu diesem Zeitpunkt  keinen mehr: Die Reform war bereits lanciert worden, bevor die Evaluation erfolgte. Das ist symptomatisch. Gesetze machen ohne vorher nachzudenken. Mit dieser Art und Weise der Rechtsetzung schadet das Parlament der Rechtssicherheit, da gebe ich Ihnen recht. Wir müssen vermehrt Sorge tragen zu unserem Gesetzeswerk.

Zusammen mit dem Präsidenten der ständerätlichen Rechtskommission, Herrn Ständerat Engler, der  Sie übrigens grüssen lässt, haben wir daher angeregt, dass die grossen Kodifikationen und Revisionen nicht sogleich wieder revidiert werden sollen. In erster Linie betrifft dies die ZPO und die StPO. Hier haben wir geplant, dass alle Revisionswünsche gesammelt werden und erst 10 Jahre nach Inkrafttreten gesamthaft ausgewertet werden, bevor eine neuerliche Revision eingeleitet wird. Diese Grundsätze haben die Rechtskommissionen beider Räte einhellig begrüsst. Nach dem gleichen Prinzip möchten wir mit den zahlreichen Revisionswünschen nach Strafverschärfungen im Besonderen Teil des StGB vorgehen. Diese sollen alle integriert werden in eine anstehende Teilrevision des BT „Ueberprüfung und Harmonisierung der Strafrahmen“. Wir wollen uns gemeinsam wehren gegen punktuelle Revisionen und einstehen für wohlüberlegte, ausgewogene Teilrevisionen, die aber nicht in zu rascher Kadenz erfolgen sollen.

Ich bin der festen Ueberzeugung, dass die ständigen Reformen und Revisionen die Praxis der Rechtsanwendung stark belasten und keinen Beitrag leisten für eine Verbesserung der Rechtsanwendung. Vielleicht teilen Sie ja diese Ueberzeugung auch. Wenn das so ist, dann müssen Sie sich aber in die Debatte einschalten. Es geht um die Rechtspolitik, hier sind zahlreiche Baustellen offen. Ich spreche oft mit Richtern und sage ihnen, sie müssten sich politisch mehr engagieren. Viele Richter und Richterinnen antworten dann, nein, das können wir nicht, das verbietet uns die richterliche Unabhängigkeit. Wir müssen unabhängig bleiben, wir müssen uns neutral verhalten.

Sie sind aber in diesen Fragen nicht neutral! Wenn es um die Verteidigung der Justiz geht und darum, das Funktionieren der Justiz zu gewährleisten, dann müssen Sie Partei ergreifen! Sie sind der Rechtsstaat! Ergreifen Sie Partei für den Rechtsstaat, bevor Sie sich vorwerfen müssen, zu lange passiv gewesen zu sein.

Zusammen mit zwei Kollegen aus der Rechtskommission war ich vor einem Jahr bei der Präsidentenkonferenz des SAV. Der SAV fragte uns, ob sein Lobbying im Parlament zu aggressiv sei. Wir schauten uns betreten an und fragten: Welches Lobbying? Zögern Sie nicht, bringen Sie sich ein, lobbyieren Sie für den Rechtsstaat!

Meine Damen und Herren, ich gestehe Ihnen ein, ich mache mir Sorgen um den Rechtsstaat in der Schweiz. Die Schweiz ist eine offene Gesellschaft und mit Luxembourg die am stärksten international ausgerichtete Volkswirtschaft Europas. Rechtssicherheit und Stabilität können wir nicht nur im Binnenverhältnis sicherstellen, es ist klar, in der globalisierten Welt muss die Rechtsstaatlichkeit auch international gewährleistet sein. Sie können jedes Rechtsgebiet wählen, das Sie wollen. Familienrecht, , Strafrecht, Umweltrecht, Steuerrecht, alles ist international geworden,  das Handelsrecht sowieso schon lange.

Die Rechtsicherheit muss via völkerrechtliche Normen auch international gesichert werden. Die Schweiz als Rechtsstaat ist auch in ihren internationalen Bezügen auf stabile Rahmenbedingungen angewiesen. Wir können es uns nicht leisten, international in hängenden Rechten zu verharren, wir brauchen klar geregelte Rechtsbeziehungen zu unseren europäischen Nachbarn und darüber hinaus. Erst recht können wir es uns nicht leisten, die Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Frage zu stellen. Es geht nicht darum, dass die Menschenrechtssituation in der Schweiz prekär wäre, da mache ich mir weniger Sorgen.

Aber die Menschenrechte sind die Grundlage nicht nur unseres Rechtsstaates, sondern der europäischen Rechts- und Wertegemeinschaft. Die Menschenrechte und der Gerichtshof in Strasbourg sind der Anker und der Hoffnungsschimmer für viele Menschen z.B. in Russland, in der Türkei oder in Rumänien, auf der ganzen Welt. Die Menschenrechte sind die Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens in Europa. Seit 40 Jahren gilt in der Schweiz die EMRK, es darf nicht sein, dass wir dieses Fundament  für die Zukunft in Frage stellen, weil wir damit auch das friedliche Zusammenleben in Europa in Frage stellen.

Sehr geehrte Damen und Herren, hoch verehrte Richterinnen und Richter!

Sie gewährleisten mit Ihrer richterlichen Unabhängigkeit und mit Ihrer neutralen Haltung das Funktionieren unseres Rechtsstaats, in der Schweiz und international. Bezüglich der Sicherung des Rechtsstaats für künftige Generationen dürfen Sie aber nicht neutral bleiben. Ich fordere Sie auf, stehen Sie für unseren Rechtsstaat ein, stehen Sie auf, wehren Sie sich für unsere Institutionen! Wir in der Politik können es nicht alleine richten, wir brauchen Sie, die Richterinnen und die Richter. Sie müssen es jetzt für uns richten.

Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung!

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