“Ein Job wie jeder andere auch?” Unter diesem Titel stellte Dr. Martin Kayser, Richter am Bundesverwaltungsgericht, in einem Vortrag beim St. Galler Juristenverein drei Vorschläge für eine Reform der Richterwahlen vor.

Link zum Vortrag.

Auszug:

“Erster Vorschlag: Mit dem Anforderungsprofil starten.

Viele Politiker wissen nicht so recht, was Richterinnen eigentlich tun. Wir sollten die Diskussion über die Richterauswahl deshalb mit dem Anforderungsprofil beginnen. Im Grunde machen wir dasselbe wie ein Orchestermusiker:

Richterinnen bewältigen Komplexität. Dazu benötigen sie Interpretationstalent, die Fähigkeit zum Systematisieren, Entscheidungsfreude und Fachwissen.

Richterinnen spielen vor Publikum. Dazu müssen sie den Verfahrensparteien zuhören können und einen guten Zugang zu sich selbst haben.

Richterinnen sind Mitglieder eines Streichquartetts. Für die Arbeit im Kollegium müssen sie Irrtümer eingestehen können und sich ihrer jeweiligen Rolle bewusst sein.

Aus diesem Grundgerüst sollten die Gerichte für die jeweilige Stellenausschreibung ein spezifisches Anforderungsprofil entwickeln.

Zweiter Vorschlag: Vorauswahl durch Politiker und Experten.

Die Parlamente sollten für die Vorauswahl Kommissionen einsetzen, die nicht nur aus Politikern, sondern auch aus Expertinnen bestehen. Letztere wissen, wie man eine Stelle ausschreibt, Lebensläufe liest und Assessments durchführt. Bund und Kantone können sich dabei einen Wettbewerb um die optimale Zusammensetzung der Kommission liefern.

Dritter Vorschlag: Harte Faktoren erst bei der Endauswahl berücksichtigen.

Die Richterbank darf und soll ein Spektrum abbilden. Die Kommission darf damit bei der Endauswahl harte Faktoren wie das Geschlecht, die Muttersprache und die politische Einstellung
berücksichtigen. «Diversity-Überlegungen» dürfen jedoch nur dann eine Rolle spielen, wenn die Kandidatinnen durch ein strenges Vorauswahlverfahren gegangen sind.

Das Auswahlverfahren sollte gesetzlich geregelt werden, ebenso jenes der Wiederwahl. Falls Richter bei Letzterer weiterhin «Denkzettel» erhalten, droht eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.”

Im Folgenden konkretisiert Kayser diese Vorschläge. Er schliesst den Vortrag, indem er sie in zehn Thesen zusammenfasst:

“1. Es gibt nicht die «richtige» Richterauswahl. Es gibt aber Modelle, die politisch mehr, und solche, die politisch weniger Erfolg haben. Dabei hat eine sanfte Reform mehr Erfolgsaussichten. Dass die Kandidaten am Schluss durch das Parlament oder das Volk gewählt werden, gehört zu den Rahmenbedingungen. Wenn wir die Wahl durch die Exekutive oder die Kooptation von Gerichten fordern, werden wir zu Traumtänzern.

2. Anforderungsprofile sind kein Wunschkonzert. Wir suchen passende Kandidaten und solche, die Potential haben. Es geht nicht darum, Superman zu finden.

3. Ein Kandidat muss aber zwingend mit Verfahrensparteien umgehen können, im Kollegium wirken und Komplexität durch Fachwissen und Interpretationstalent bewältigen können.

4. Richter machen einen Job wie jeder andere auch. Wenn wir Entscheidungsfreude die Fähigkeit zum Zuhören verlangen, stellen wir keine aussergewöhnliche Anforderungen. Wir
sollten uns hüten, das Richteramt zu mystifizieren.

5. Ob jemand das Anforderungsprofil erfüllt, weiss eine gemischte Kommission am besten. Diese sollte sich zur Hälfte aus Experten und zur anderen Hälfte aus Politikern zusammensetzen. Reine Expertenkommissionen haben dagegen politisch wohl nur geringe
Chancen. Die Experten müssen zwingend vom Parlament gewählt werden.

6. Das Auswahlverfahren muss streng sein. Nur, was schwierig zu erreichen ist, ist auch wirklich attraktiv.

7. Für die Richterauswahl braucht es eine gesetzliche Grundlage. Es ist undemokratisch, dass die politischen Parteien heutzutage Kandidaten aussuchen dürfen, ohne dazu vom Parlament und vom Volk je ermächtigt worden zu sein.

8. Bei der Erarbeitung der gesetzlichen Grundlage sollten auch die Gründe für eine Abwahl abschliessend geregelt werden.

9. Nutzen wir die Kantone als Versuchslabore. Schauen wir, welches System der Auswahl am besten funktioniert. Experimentieren wir mit Anforderungskatalogen und der Zusammensetzung der Kommissionen.

10. Und zum Schluss noch: Bringen wir unser Haus in Ordnung, bevor Strassburg bei uns laut und vernehmlich anklopft. Die Zeit wird immer knapper!”

 

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