Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften und die Gesellschaft für Intensivmedizin erliessen Ende März für die COVID-19-Pandemie Richtlinien für die “Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit” /  “Triage des traitements de soins intensifs en cas de pénurie des ressources” (Link/Lien: deutsch français).

Es erhob sich Kritik, diese Richtlinien diskriminierten alte Menschen und solche mit bestimmten Krankheiten wie etwa  mittelschwerer Demenz. In der ersten Pandemiewelle wurden noch keine konkreten Diskriminierungsfälle bekannt.

In einer Zwischenbilanz, veröffentlicht am 16. April 2020, schrieb die SAMW:

“Obwohl die Richtlinien ausdrücklich festhalten, dass das Alter per se kein Triagekriterium ist (S. 3), wurde die SAMW öffentlich mit dem Vorwurf der «Altersdiskriminierung» konfrontiert. Die Richtlinien sind für Fachpersonen und nicht für medizinische Laien bestimmt, dennoch scheint eine Klärung dieser Frage sinnvoll. Bei den hochaltrigen Patienten zeigen die Daten nicht nur in Bezug auf Covid-19, sondern für intensivmedizinische Indikationen generell, eine schlechtere Überlebenschance. Dies schliesst aber nicht aus, dass es ältere Patienten gibt, die gesünder sind als jüngere und im Fall einer nötigen Triage bevorzugt behandelt würden. 

Gestützt auf die Richtlinien würde nie allein aufgrund eines Kriteriums bei einem Patienten entschieden; der Entscheid muss immer in Relation stehen zur Prognoseeinschätzung der anderen Patienten, die auf eine intensivmedizinische Behandlung angewiesen sind. Die Liste der Kriterien ist lang und von einer «Altersdiskriminierung» kann keine Rede sein.”

Die SAMW lud zur Teilnahme an einer Umfrage ein und schrieb dazu:

“Wie herausfordernd diese Entscheidungen sein können, veranschaulichen fiktive Beispiele im Fragebogen von ethix.  Diese Online-Umfrage soll dazu beitragen, die ethische Debatte breit zu führen.”

*

In der zweiten Pandemiewelle droht nun die Überlastung von Intensivstationen und Beatmungsgeräten in Schweizer Spitälern demnächst Tatsache zu werden. Triage würde unumgänglich, und die SAMW-Richtlinien kämen zur Anwendung. Nach wie vor werden sie heftig kritisiert, wie aus einem am 30. Oktober 2020 in der NZZ erschienenen Bericht von Simon Hehli hervorgeht (Link).

Auszüge:

“Die Plätze auf den Schweizer Intensivstationen könnten bald wieder knapp werden. Nach der jetzigen Regelung wären Hochaltrige oder Demente dann automatisch dem Tod geweiht.  (…)

Die Richtlinien erscheinen diesbezüglich widersprüchlich. So steht zwar, das Alter per se sei kein Kriterium, das zur Anwendung gelangen dürfe. «Es misst älteren Menschen weniger Wert bei als jüngeren und verletzt in diesem Sinne das verfassungsrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot.» Aber unter den konkreten Kriterien, die relevant werden, wenn keine IPS-Betten mehr zur Verfügung stehen, figuriert das Alter: In einem solchen Fall sollen Patienten über 85 Jahren nicht mehr behandelt werden. Dabei stützt sich die SAMW ab auf die Erkenntnisse einer chinesischen Studie, laut der das Alter ein Indikator für die Überlebenschance sei.

Die Juristen Christa Tobler und Mark-Anthony Schwestermann vom Europainstitut in Basel haben die Richtlinien bereits während der ersten Corona-Welle in einem Beitrag im «Jusletter» bemängelt. Sie schrieben, das Problem liege darin, dass die Verwendung von Alterskriterien in den SAMW-Richtlinien nicht auf Fakten zum konkreten Einzelfall beruhe, sondern vielmehr auf blossen, verallgemeinernden Annahmen – eben dem Alter.

Aus Sicht von Schwestermann hat diese Frage nichts an Brisanz verloren, im Gegenteil. «Sollte jetzt das Schlimmste eintreffen, wäre es rückblickend beschämend, wenn mögliche Grundrechtsverletzungen diskussionslos hingenommen wurden», betont er. Die «Altersguillotine» ist aus seiner Sicht keinesfalls gerechtfertigt. «Es ist nicht einzusehen, weshalb nach den Triage-Richtlinien die Überlebenschancen jüngerer Patienten abgeklärt werden, nicht jedoch die von älteren Patienten über 85 Jahren.» (…)

Auch die Seniorenorganisation Pro Senectute betrachtet die Diskussion um das Alter als Kriterium für eine Spital-Notfallbehandlung mit Sorge, wie Sprecher Peter Burri Follath sagt. «Eine Vielzahl der hochaltrigen Menschen respektive der älteren Menschen mit Vorerkrankungen befinden sich in einer guten, lebenswerten Situation. Das darf im Falle einer Corona-Infektion – unabhängig vom Alter – keinesfalls in Vergessenheit geraten.» Gleichzeitig appelliert Pro Senectute an die Senioren, sich Gedanken zu machen, welche medizinischen Massnahmen sie im Fall einer schweren Corona-Erkrankung wünschen. Für Kenner des Gesundheitswesens wäre es verheerend, wenn Patienten Intensivpflege erhielten, die das gar nicht wollen – während andere abgewiesen werden müssen.

Ebenfalls verärgert über den SAMW-Leitfaden ist die Organisation Alzheimer Schweiz. Dies, weil die Richtlinien vorsehen, dass Menschen mit mittelschwerer Demenz bei Knappheit nicht mehr behandelt werden. «Das ist weder fair noch sachlich begründet», erklärt Geschäftsleiterin Stefanie Becker. Denn eine Person, die an einer Demenz in einem mittleren Stadium erkrankt ist, könne durchaus körperlich gesund sein und nach einer intensivmedizinischen Behandlung im Falle einer Covid-19-Infektion eine Überlebensprognose von über zwei Jahren haben. (…)”

 

Print Friendly, PDF & Email