Von Dr. iur. Thomas Cottier

Die Europa-Initiative der Allianz unter Führung von Operation Libero strebt eine Grundsatzentscheidung an zur Beteiligung der Schweiz am europäischen Integrationsprozess. Sie will diese Beteiligung in der Bundesverfassung und den Zielen der Aussenpolitik angemessen verankern. Die bei jeder europapolitischen Vorlage immer wieder und erneut erhobenen Einwände der nationalen Souveränität, Selbstbestimmung und Neutralität gegen die Teilhabe in Europa sollen auf lange Sicht und grundlegend durch den Mehrheitsentscheid von Volk und Ständen verfassungsrechtlich entkräftet werden und den Weg hin zu mehr Sachpolitik und Besinnung in Integrationsfragen ebnen. Sie will, dass die Schweiz ihren Platz in Europa grundsätzlicher als heute debattiert und auch verfassungsrechtlich finden wird.

Die Initiative legt die Ziele der Integrationspolitik fest. Sie legt weder bestimmte Mittel noch einen festen Weg verfassungsrechtlich fest; das kann eine Verfassung auch gar nicht leisten. Wege und Mittel gehen mit der Zeit und hangen stark auch von der Haltung der EU und ihrer Mitgliedstaaten ab. Es gibt daher auch keinen Widerspruch zu laufenden Konsultationen und Verhandlungen. Im Gegenteil, das Volksbegehren unterstützt diese, indem es den Diskurs über Europa grundsätzlich führt und die für Verhandlungen notwendige Grundenergie gegen den nationalkonservativen Widerstand erzeugt. Das ist gerade im Wahljahr 2023, aber darüber hinaus, von grosser Wichtigkeit und Nachhaltigkeit. Es ist eine Initiative vor allem der jungen Generation und ihrer Zukunft. Sie wird gemeinsam mit der Grünen Partei ganz wesentlich von den Studierenden und Kulturschaffenden dieses Landes getragen. Sie ist unser Beitrag zur 175-Jahr-Feier der Bundesverfassung von 1848.

Die Europa-Initiative befasst sich in erster Linie mit Fragen der wirtschaftlichen Integration und den Herausforderungen der Nachhaltigkeit (Klima, Energie). Sie will sicherstellen, dass diese Politiken in enger Zusammenarbeit mit dem Green Deal der EU und nicht länger in einem nationalen Alleingang und unrealistischen Vorstellungen der Autarkie in der Energieversorgung verfolgt werden.

Mit dieser Agenda stützt sie nicht nur den Verhandlungsprozess zu den Bilateralen III. Sie bildet auch ein Gegengewicht und Gegenentwurf zur Neutralitäts-Initiative (oder besser Anti-Sanktionsinitiative) nationalkonservativer Kreise, die keine Beteiligung unseres Landes am Integrationsprozess zulassen wollen und in der Vergangenheit auch den europäischen Grundrechtsschutz in Frage gestellt haben. Es geht daher um mehr als wirtschaftliche, ökologische und implizit auch sicherheitspolitische Fragen auch der Resilienz. Es geht ebenso um den Grundrechtsschutz, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und die Demokratie.

Grundrechte

Die Bundesverfassung nennt Europa und die Europäische Integration mit keinem Wort. Das gleiche gilt für den Europarat und damit auch die Europäische Menschenrechtskonvention. Diese hat heute lediglich als kündbarer Staatsvertrag Bestand. Die in der Schweiz durch die Praxis des Bundesgerichts erreichte indirekte Verfassungsgerichtsbarkeit kann immer wieder in Frage gestellt werden, was auch passiert. Sie ist verfassungsrechtlich nicht gesichert. Volk und Stände haben 2018 den letzten Angriff auf diese Verfassungsgerichtsbarkeit und die EMRK massiv mit über 66% verworfen (Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter», sogenannte Selbstbestimmungsinitiative).

Der Bezug zu den Grundrechten findet sich im Text der Initiative in Art. 54a Abs. 1, wo der gemeinsame Schutz der Menschenrechte ausdrücklich festgehalten wird. Das bezieht sich heute auf die EMRK und weitere Abkommen des Europarates und ist künftig im Rahmen der Europäischen Grundrechtecharta von Bedeutung, die das Binnenmarktrecht der EU immer stärker beeinflusst und mitprägt. Die Bestimmung sichert so den europarechtlichen Grundrechtsschutz in der Bundesverfassung und damit indirekt auch die Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundrechtsbereich über Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse. Sie sichert damit auch die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung, die in der Schweiz auf Bundesebene völkerrechtlich unterstützt werden muss.

Der vorgeschlagene Art. 54a Abs. 4 behält die Möglichkeit von Schutzmassnahmen im Rahmen geltender Verträge (also jeweils völkerrechtskonform) zur Abfederung der Marktöffnung im Gesetz vor. Das variiert je nach Grad der erreichten Integration, öffnet aber heute die Möglichkeit des Schutzes auch sozialer Rechte jedenfalls im Rahmen bilateraler Verträge, allenfalls unter Inkaufnahme von Ausgleichsmassnahmen, der Verhältnismässigkeit im Rahmen der bilateralen Verträge der gerichtlichen Prüfung durch ein paritätisches Schiedsgericht. (Diese Option steht als EU-Mitglied nicht mehr, und im Rahmen des EWR nur kollektiv zur Verfügung.) Die Bestimmung sieht sodann ausdrücklich das Gleichbehandlungsgebot im Arbeitsprozess vor. Dieses geht über die Inländerbehandlung hinaus, sondern umfasst auch die Gleichbehandlung der Geschlechter in der Lohnfrage. Die Bestimmung geht so über Art. 8 Abs. 3 BV hinaus, welche diese Fragen allein dem Gesetz vorbehält und eine unmittelbare Anwendung ausdrücklich ausschliesst.

Demokratie und Mitsprache

Die Abstimmung über fremde Richter, wie auch die massive Verwerfung der Kündigung des freien Personenverkehrs im Jahre 2020 mit über 61% der Stimmen (sogenannte Begrenzungsinitiative) bilden die Grundlage des Vertrauens in die schweizerische Bevölkerung, dass eine Mehrheit die europäische Integration als notwendig und wünschbar für das Wohl des Landes erachtet – gerade heute angesichts der geopolitischen Entwicklungen. Dies gilt weit mehr als für Politikerinnen und Politiker, die zumeist Sonderinteressen verbunden sind und wie der Bundesrat die Auffassung wider alle Evidenz vertraten, dass das Rahmenabkommen vom 23.11.2018 vor dem Volk keine Chance habe und daher mit dem Entscheid des Bundesrates vom 26.05.2021 nicht einmal dem Parlament vorlegt wurde. Wenig Vertrauen in die Demokratie kommt hier in Europafragen zum Ausdruck. Sie wird von Sonderinteressen und intransparenten Verhandlungen hinter verschlossenen Türen bestimmt. Die Europa-Initiative will dies korrigieren. Volk und Stände sollen proaktiv Stellung nehmen können, nicht lediglich in Abwehr national konservativer Referenden, was sich bei den Bilateralen III erneut wiederholen dürfte.

Aus demokratischer Sicht ist die Sicherstellung der Mitsprache im Integrationsprozess ein zentrales Anliegen in Art. 54a Abs. 4, gerade in einem Land, das EU-Recht in weitem Masse autonom nachvollzieht und bislang mit wenigen Ausnahmen (Schengen) ohne aktive Mitwirkung an der Ausgestaltung der europäischen Gesetzgebung geblieben ist (Beispiel Digitalrecht). Darin kommt auch ein wichtiges Anliegen der multi-layered Governance zum Tragen, die im schweizerischen Verfassungsrecht hier eine erste Verankerung finden wird. Die Initiative ist hier offen für unterschiedliche Stufen der Integration und Mitsprache, von bilateralen Verträgen über den EWR-Vertrag, weitere Varianten und Entwicklungen (etwa im Verbund mit Grossbritannien), bis hin zum vollen Beitritt und damit auch der demokratischen Mitbestimmung. Die Initiative prägt eine in Europa zukunftsfähige Bundesverfassung.

Wir werden die langfristigen Aspekte von Grundrechten und Demokratie in der Kampagne stärker als bislang betonen, zumal sich heute Verhandlungen zu den Bilateralen III abzeichnen und die Initiative damit die langfristigen Anliegen in den Vordergrund stellen wird, neben der Handlungsfähigkeit der Schweiz, die durch fundamentale Opposition im neuen Sonderbund auch nach einer Verhandlungsaufnahme und dem Verhandlungsabschluss bis Ende 2024 keineswegs gesichert ist. In diesem Kontext wird die Allianz im Rahmen der Vorprüfung durch die Bundeskanzlei auch entscheiden, ob die Übergangsbestimmungen noch notwendig sind oder nach Aufnahme der Verhandlungen zu den Bilateralen III weggelassen werden können.

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Initiativtext

Stand April 2023, vor Vorprüfung durch Bundeskanzlei

Art. 54a Europäische Integration

1 Der Bund beteiligt sich am Prozess der europäischen Integration. Er fördert dabei Frieden, Freiheit, Demokratie, nachhaltige Wohlfahrt und Entwicklung sowie den gemeinsamen Schutz der Menschenrechte. Er pflegt insbesondere die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit.

2 Er strebt eine gesicherte Beteiligung an den Freiheiten des europäischen Binnenmarktes und in weiteren Politikbereichen an, insbesondere in der Bekämpfung des Klimawandels, der Energiepolitik, der Versorgungssicherheit, der Digitalpolitik sowie in der Bildungs- und Forschungszusammenarbeit und dem kulturellen Austausch.

3 Er schliesst zu diesem Zweck einen oder mehrere völkerrechtliche Verträge ab, die es ermöglichen, bestehende Abkommen zu erneuern und an weiteren Sektoren des Binnenmarktes und Bereichen der europäischen Zusammenarbeit zu partizipieren. Er stellt dabei eine angemessene Teilhabe am Prozess der Rechtsetzung und wirksame Verfahren der Streitbeilegung sicher.

4 Bund und Kantone erlassen im Rahmen der jeweils geltenden Verträge Massnahmen zur Abfederung der Marktöffnung, insbesondere in Bezug auf den Arbeitsmarkt. Sie stellen den Grundsatz gleicher Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort sicher.

Art. 197 Übergangsbestimmungen zu Art. 54a (Europäische Integration)

1 Der Bundesrat wird beauftragt, spätestens nach der Annahme von Art. 54a BV durch Volk und Stände Verhandlungen mit der Europäischen Union über die Weiterentwicklung der Beziehungen aufzunehmen und die institutionellen Fragen zu regeln. Er strebt einen Abschluss ohne Verzögerung an. Er legt der Bundesversammlung innert 12 Monaten nach gegenseitiger Unterzeichnung eines oder mehrerer Abkommen Bericht und Antrag vor und schlägt die dazu erforderlichen autonomen Schutzmassnahmen in der Gesetzgebung vor.

2 Dem Bundesrat steht es nach Annahme von Art. 54a BV jederzeit frei, weitergehende Verhandlungen zu einem umfassenden Integrationsabkommen aufzunehmen, einschliesslich Verhandlungen über den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union oder zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum.

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Zum Autor:

Thomas Cottier, Dr. iur., ist emeritierter Professor und Direktor Direktor des Instituts für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern, wo er das World Trade Institute (WTI) 1999 mitbegründete und bis 2014 leitete.

 

* Bild: VBS/DDPS – Jonas Kambli, Lizenz CC BY-NC-ND


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