In der NZZ wird eine hochstehende Debatte über die Frage geführt, ob die subsidiäre Verfassungsbeschwerde abgeschafft werden soll. Die Vorlage zur Revision des Bundesgerichtsgesetzes kommt in den Ständerat als Zweitrat.

Neu lanciert wurde die Debatte am 16.7.19 durch einen Meinungsartikel von Dr. Markus Mohler, vormals Staatsanwalt und Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt, unter dem Titel “Revision des Bundesgerichtsgesetzes: Abbau von Rechtsstaatlichkeit”, gefolgt von Beiträgen von Prof. em. Georg Müller und alt Bundesgerichtspräsident Giusep Nay.

Auszug Mohler:

“(…) Dass die Möglichkeit besteht, eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde einzulegen, ist selber jedoch schon ein Grund, die Sorgfalt bei Gerichtsentscheiden zu pflegen und nicht im Wissen um deren Endgültigkeit auf der unteren Stufe auch eine Fünf gerade sein zu lassen. Es geht ja just um durch die Bundesverfassung gewährte Rechte, etwa auf ein unabhängiges Gericht, die zu verwirklichen sind. Der Bundesrat und auch der Nationalrat haben daher das Begehren des Bundesgerichts abgelehnt; ausstehend ist der Beschluss des Ständerates. Es wird ihm allseits nahegelegt, diesen beiden Beschlüssen zu folgen: die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist unerlässlich, und sie muss auch auf die vorinstanzlichen Bundesgerichte ausgedehnt werden. (…)

Insgesamt handelt es sich bei diesen Vorschlägen um einen weitreichenden Abbau an der Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, dem entgegenzuhalten ist. Die Rechtsstaatlichkeit ist auch in anderen Zusammenhängen unter Druck. So verursacht die Ökonomisierung des öffentlichen Rechts, worauf Prof. Markus Müller vor einiger Zeit hingewiesen hat, vielfach Schaden an rechtsstaatlich einwandfreien Verfahren. Dasselbe ist im Strafprozessrecht feststellbar. Der ökonomische Druck führt in der Rechtsanwendung vermehrt zur Missachtung des Rechtsgleichheitsgebots, des Legalitätsprinzips und der Offizialmaxime. Diese besagt, dass Polizei oder Staatsanwaltschaft bei hinreichendem Tatverdacht auch ohne Vorliegen einer Strafanzeige Ermittlungen aufnehmen müssen. Diese Ökonomisierung hat, wie auch dieser Revisionsvorschlag zeigt, ebenso die Gesetzgebung in gefährlicher Weise erfasst. (…)

Unvermittelt werden in der politischen Diskussion ja auch Grundrechte selber infrage gestellt. Wir tun gut daran, das Rechtsstaatsprinzip kompromisslos zu verteidigen, es ist Grundlage und Schranke demokratischer Entscheide. Die notwendige Aufstockung der Richterstellen ist nicht nur die bessere, sondern auch die einzig richtige Massnahme zur Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit im Justizwesen. Der Ständerat täte daher gut daran, auf die Vorlage nicht einzutreten beziehungsweise sie zur Verbesserung an den Absender zurückzuschicken.”

Auszug Müller (20.7.19):

“(…) Das Prinzip des Rechtsstaates gebietet aber nicht, dass alle Rechtsstreitigkeiten an das oberste ­Gericht weitergezogen werden können. Es genügt, dass sie von einem Gericht – zum Beispiel einem kantonalen – beurteilt werden. Nur ein Kleinstaat wie die Schweiz kann es sich leisten, auch in Bagatellfällen den Rechtsweg an das höchste Gericht zu öffnen.

Die meisten grossen Rechtsstaaten (zum Beispiel Deutschland und die USA) sehen vor, dass nur die vom obersten Gericht als bedeutend angesehenen Fälle von diesem angenommen und beurteilt werden. Das Bundesgericht begründet seine Forderung nach einer Beschränkung des Zugangs vor allem damit, es werde durch sehr viele aussichtslose Beschwerden so stark belastet, dass es sich mit den wichtigen Fällen nicht genügend auseinandersetzen könne. Wenn das zutrifft, würde eine gewisse Erhöhung der Schranken für die Beschwerden an das Bundesgericht möglicherweise sogar zu einer Verstärkung der Rechtsstaatlichkeit führen, weil es zu den zentralen Aufgaben des obersten Gerichts gehört, Grundsatzfragen vertieft zu prüfen und damit zur Rechtsentwicklung in der Schweiz beizutragen.”

Auszug Nay (24.7.19):

“(…) Der Vergleich Müllers mit Deutschland und den USA ist nicht statthaft, da unser Bundesgericht im Gegensatz zu den Gerichten in diesen Ländern kein Verfassungsgericht ist. Es hat im Vergleich mit Deutschland die Rolle der dortigen obersten Bundesgerichtshöfe und nicht die des Bundesverfassungsgerichts mit seinem Annahmeverfahren. Das Bundesgerichtsgesetz kennt Beschränkungen beim Zugang zum Bundesgericht mit einer Ausnahme, die diesem Annahmeverfahren nachgebildet ist. Sie gilt, wenn es um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung geht. Diese Zugangsbeschränkungen und die Ausnahme davon haben in unserer Rechtsmittelordnung hingegen eine ganz andere Bedeutung als die beim deutschen Bundesverfassungsgericht.

In der Schweiz handelt es sich um eine Beschränkung der ordentlichen Rechtsmittel, weshalb eine empfindliche Rechtsschutzlücke entstünde, wenn in den Ausschlussfällen die ausserordentliche Verfassungsbeschwerde nicht mehr möglich wäre, mit der dann wenigstens Verletzungen der Grund- und Menschenrechte oder des Willkürverbotes beim Bundesgericht geltend gemacht werden können. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wurde bei der Einführung der Einheitsbeschwerde im Parlament ausdrücklich nachträglich ins Gesetz aufgenommen, um eine solche Lücke zu verhindern, wie dies die staatsrechtliche Beschwerde vorher gewährleistete. Könnten Bürgerinnen und Bürger solche Verletzungen grundlegendster Rechte in Zukunft nicht mehr in allen Fällen auf Bundesebene rügen, bedeutete dies einen klaren Abbau an Rechtsstaatlichkeit.

Die subsidiäre Verfassungsbe­schwerde muss ausserdem nicht abgeschafft werden, um das Bundesgericht genügend zu entlasten. (…)”

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