Liberales Pamphlet gegen die Untergrabung der Verfassung durch Herrn B.

Von Peter Max Gutzwiller, Dr. iur., Rechtsanwalt in Zürich

Es geht der Schweiz gut, sehr gut, jedenfalls verglichen mit dem uns umgebenden Ausland. Es geht uns gesellschaftlich-staatspolitisch schlecht, jedenfalls gemessen an den hohen Erwartungen, die wir an uns und unser System stellen. (Wollte man Herrn B. glauben, stünde die Schweiz, in der er »diktatorische Tendenzen« ortet, sogar schon am Abgrund). Dass wir diesem in weiten Kreisen als unglücklich empfundenen Zustand verunsichert und einigermassen ratlos gegenüber stehen, ist mit mehrfachen historischen Missverständnissen zu erklären: (1) Manche waren bisher fest überzeugt, dass die Schweiz von Gott, den wir als Hort unserer Bundesverfassung anrufen, selbst und absichtlich in der uns bekannten Form geschaffen wurde. (2) Sollte die Schweiz nicht gottgewollt sein, haben doch unsere Vorväter in grosser Weitsicht und Weisheit Institutionen geschaffen, die sich bewährt haben, und die deshalb von ewi-ger Dauer sein müssen. (3) In der Schweiz wurde seit 1848 Rousseaus Demokratielehre prak-tisch umgesetzt, wodurch auf ewige Zeiten der Zenith des Staatsverständnisses erklommen war.

Was hat sich also seit 1848 falsch entwickelt und uns in die heutige Verunsicherung geführt? Alles? – nichts, weil nichts je so gewesen ist, wie behauptet wird, auch nicht die Gewichtung des Volkes, das Herr B., in Verkennung dessen, was Rousseau wirklich geschrieben hat, nicht müde wird, als Mythosanzurufen. Für Herrn B. ist die von ihm mitgeschaffene Verunsiche-rung der ideale Nährboden für seine Angriffe auf die Verfassung.

Moderne Staaten sind von Menschen geschaffene Organismen mit dem Ziel, ihren Bürgern Sicherheit zu bieten und Auskommen und Entfaltung zu ermöglichen. Dieser Zielsetzung dienen, abgesehen von den Grundfreiheiten und Sozialrechten, vor allem vier alle andern Grund-sätze überstrahlende Maximen: Die Herrschaft des Volkes (Demokratie), die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Rechts (Rechtsstaatlichkeit) und die Einbettung unseres Landesrechtes in das Völkerrecht.

Getarnt durch die Behauptung, die geschädigte Herrschaft des Volkes (und damit die Souveränität des Landes) wieder herzustellen, führt Herr B. seit Jahren einen je nach Thema unterschiedlich intensiven Kampf gegen die Rechtsstaatlichkeit, die Gewichtung des Völkerrechts und die Gewaltenteilung. Dieser Kampf bewirkt eine massive Aushöhlung des Vertrauens der Bürger in unseren Staat und seine Institutionen und richtet sich damit letztlich direkt auch gegen die Demokratie.

Zur Rechtsstaatlichkeit (Art. 5 Abs. 1 BV) gehört, dass sich nicht nur die Organe des Staates, sondern auch die Bürger im Rahmen der Rechtsordnung betätigen und deren Regeln befolgen. Dazu gehört der Grundsatz des Handelns nach Treu und Glauben, eine »allgemein gültige Schranke der Rechtsausübung« (Merz), aus Art. 2 ZGB in Art. 5 Abs. 3 BV übernommen und damit auch unmittelbare Bürgerpflicht. Selbst wer, wie der Schreibende, dem Bürger ein grosses Mass an Gestaltungsfreiheit auch und gerade gegenüber dem Staat einräumt, kann die Angriffe des Herrn B. auf die verfassungsmässige Ordnung längst nicht mehr als Handeln nach Treu und Glauben tolerieren. Ebenfalls zur Rechtsstaatlichkeit gehört, dass die Staatsorgane ihr Handeln nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit ausrichten (Art. 5 Abs. 2 BV). Was Herr B. Bundesrat, Bundesverwaltung und Gerichten auch neuestens wieder zumuten will, ist genau das Gegenteil.

Der Gedanke, ein moderner Staat mit seinen zum Wohl der Bürger unerlässlichen zwischen- und überstaatlichen Interdependenzen könne seine Rechtsbeziehungen durch die Landesgrenzen limitieren, ist grotesk. (Das Wirtschaftsunternehmen, dem Herr B. seinen ihm gegönnten Reichtum verdankt, würde ohne völkerrechtliche Transparenz der Landesgrenzen zum Kiosk verkümmern). Zu Recht wird denn auch die Berücksichtigung des Völkerrechts durch unsere Verfassung ausdrücklich in die Staatstätigkeit integriert (Art. 5 Abs. 4 BV). Die geradezu liturgisch-rituelle Beschwörung der Souveränität des Landes und deren behauptete Untergrabung durch das Völkerrecht, insbesondere die EMRK, durch Herrn B. ist ein unentschuldbarer Rückfall in vormoderne Zeiten. Die Schweiz ist seit langem durch die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und hunderte von Staatsverträgen politisch, gesellschaftlich, kulturell, und wirtschaftlich in die Staatengemeinschaft eingebunden und hat daraus in hohem
Masse Nutzen gezogen. Unsere Wirtschaft, schon immer Aussenwirtschaft, unsere Lehre und Forschung, mehr denn je zuvor durch internationalen Austausch geprägt, unsere Kultur, von Anfang an grenzüberschreitend befruchtet und befruchtend, wären nicht überlebensfähig, wenn wir uns wieder abschotteten. Aber jede Öffnung hat ihren Preis: bekanntlich hat jede noch so wertvolle Verbindung, auch die Ehe und jeder private Vertrag, die Preisgabe eines Teils der Bewegungsfreiheit zur Folge. Die Souveränität hat als strikt zu erreichendes Prinzip ausgedient, hat ihren Charakter verändert, ist nicht mehr absolute Maxime – die sie für den Kleinstaat Schweiz in Wirklichkeit nie gewesen ist – sondern relative Zielsetzung. Der moderne Staat versucht, ein Höchstmass an Nutzen für seine Bürger nicht mehr aus dem Alleingang, sondern durch Integration zu erreichen, durch eine Intensivierung und Optimierung seiner Fähigkeiten, Leistungen und Produktionen in möglichst wirkungsvollem Austausch gegen die Fähigkeiten, Leistungen und Produktionen seiner Konkurrenten, und durch kluge Diplomatie. An die Stelle der das Alleinstehen betonenden Souveränität tritt die Integralität, was keinesfalls identisch ist mit einem Beitritt zur EU.

Von allen seit der Aufklärung entwickelten Staats-Ordnungsmaximen ist die Gewaltenteilung (»Macht bremst Macht«) die komplexeste; sie ist eine Aufgabenstellung, die sich am wenig-sten für demagogische Formulierungen eignet, und gerade deshalb – unter Berufung auf den mythologisierten Volkswillen – von Herrn B. in besonderem Masse missbraucht wird. Die Gewaltenteilung ist deshalb so heikel zu verstehen und zu handhaben, weil darin die besondere Bedeutung und Gewichtung des Volkswillens in vielfältiger und z.T. notwendigerweise widersprüchlicher Weise zum Ausdruck kommt.

Dass dem Volk als Organ des Staates und seiner Willensbildung in der Schweiz eine besonders starke Stellung zukommt, ist historisch erklärbar. Unsere Demokratie ist erwachsen aus dem mittelalterlichen Genossenschaftsdenken, mitgeprägt durch die Gedanken der amerikanischen Verfassungsschöpfer, radikalisiert durch das machtvolle Bestreben zum Umsturz der Machtverhältnisse in der Romantik. Es wird aber oft übersehen, dass die Schöpfer der Bundesverfassung von 1848 (abgesehen vom obligatorischen Verfassungsreferendum) keine direkte Demokratie auf Bundeseben geschaffen haben, sondern eine rein repräsentative. Die direkten Mitgestaltungsrechte (Verfassungsinitiative, Staatsvertrags- und Gesetzesreferendum) wurden erst später anlässlich von Partialrevisionen in die Verfassung eingeführt. Man mag das Fehlen der Verfassungsgerichtsbarkeit als Indiz für eine leichte Überhöhung der Legislative (insgesamt, nicht nur des Volkes!) über die andern Gewalten deuten; anderseits spricht das Fehlen der Gesetzesinitiative auf Bundesebene für eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der Allmacht des durch numerische Mehrheit dargestellten Volkswillens. Und wenn es auch richtig ist, dass das Volk in den in seine Kompetenz fallenden Bereichen mit Mehrheit entscheidet, hängt doch „alles davon ab, von welchem Geiste diese Mehrheit erfüllt ist“ (Fleiner) – eine zwar nicht justiziable, aber philosophisch unabdingbare Grundlage der Demokratie.

Unsere Staatsstruktur, insbesondere die Gewichtung der Kompetenzen der Organe in unserem Staat – einschliesslich des Volkes – ist in langer geschichtlicher Entwicklung als Willensakt entstanden, und wie jede von Menschen geschaffene Ordnung unterliegt auch unsere Staatsstruktur als »Spiegel der Psyche« (Imboden) der notwendigen willentlichen Anpassung auf Grund veränderter gesellschaftlicher Umstände und Bedürfnisse. Unsere Bundesverfassung weist die Gesetzgebung primär dem Parlament zu, wenn auch unter wichtigem Korrekturvorbehalt durch das Volk. Eine absolute, unbedingte Vorherrschaft des Volkswillens ist unserer Verfassung nicht zu entnehmen; die von Herrn B. gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, „die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes stehen in der Schweiz zuoberst in der Hierarchie“ (BLICK, 11.1.2016 S. 2) ist einseitig und rein demagogisch und polemisch.

Die wirkliche Bedeutung des Volkes muss in ganz anderem, fundamentalem Sinne verstanden werden: Das Volk ist nicht die alleinige oberste Gewalt im Staate, aber die oberste Inspiration. Dem Volk sollen die Organe des Staates dienen, nicht sich selbst. Das Wohl des Volkes, nicht das Wohl der Regierenden, soll Richtschnur des behördlichen Wirkens sein. Dem Volk gehört der Respekt, vor den Inhabern unmittelbarer Macht.

Diese Sicht passt natürlich nicht in das Eigenbild des Herrn B. Er braucht die plebiszitäre Demokratie. Unter ausufernder, willkürlicher Benützung formal bestehender Volksrechte reizt es ihn, die andern Staatsgewalten unter Verletzung der Grundmaximen unseres Staates vor sich herzutreiben, weil er sie verachtet: den Bundesrat, aus dem er abgewählt wurde, den Nationalrat, dessen Tätigkeit er ausdrücklich als Zeitverschwendung bezeichnete, den Ständerat, in den er (das Volk weiss immer alles am besten!) zweimal nicht gewählt wurde, und das Bundesgericht, weil es sich erkühnt, den Gedanken des Herrn B. gelegentlich zu widersprechen. Eine der Voraussetzungen für das Gelingen der Demokratie ist das Mass: „Nur der Staat, der sich in seinen … Mitteln beschränkt, vermag eine wahre Demokratie zu sein“ (Imboden). Weil er masslos ist, schädigt Herr B. unsere Demokratie. Was Herrn B. letztlich zu seinem absolutistischen Gehabe treibt, weiss letztlich nur er selbst. Zu vermuten ist, dass er sich an den sogenannten Eliten des Volkes, ja an der ganzen Bevölkerung rächen will für seine Biographie. Er fühlt sich trotz seines wirtschaftlichen Erfolges nicht ernst genommen; er möchte gerne »dazu« gehören, ja sogar der Chef sein, und ist doch ausgeschlossen. Aus seinem Spiegel schaut ihm ein Staatsmann entgegen, den es nicht gibt, ein Mann, der geliebt werden möchte, und den man doch nur verärgert wahrnimmt, eventuell fürchtet.

Allerdings würde zu kurz greifen, wer bei dieser Kritik stehen bliebe. Wie seinerzeit James Schwarzenbach hat Herr B. wiederholt Themen erkannt, die das Volk beschäftigen und die – von den andern Parteien arg vernachlässigt – einer Lösung zugeführt werden müssen, allerdings nicht in derb-provokativem, von Extremismen, Diabolisierungen und Verunglimpfungen geprägtem Stil, sondern sachlich. Beides gehört zum Respekt vor dem Volk: Relevante Themen erkennen und ehrlich ansprechen und – bei aller Angriffigkeit und Hartnäckigkeit in der Sache – ein angemessener Stil in der Debatte. Im offenen, nüchternen Diskurs wird die seinerzeit nicht für die Ewigkeit geschaffene Struktur unseres Staates stets aufs Neue zu erwägen und werden die unser Volk bedrängenden Fragen zu beantworten sein – allerdings nun wohl ohne Beiträge des Herrn B. In einem selbstgefälligen Interview mit dem BLICK, wiedergegeben am 11. Januar 2016, hat sich Herr B. als Selbst-Ernannter Retter der Nation, als Selbst-Gekürter Polit-Messias und wahrer Vollstrecker der Geschichte zu erkennen gegeben. Wer sich so »entrückt«, nur noch »auf der obersten Ebene« tätig werden will, verlangt – weil erhaben – von Kritik verschont zu werden und hat erkannt, am Ende angelangt zu sein. Wir erwarten, ohne Interesse, die Verkündung seiner zehn Gebote, die er doch von mir aus »in beängstigender Unabhängigkeit« formulieren soll.

Januar 2016

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