“Die Interpretation einer angenommenen Initiative «gehört» nicht den Initianten”, schreibt NZZ-Redaktor Hansueli Schöchli in einem Bericht, in dem er einen Vorschlag des Initiativkomitees für die gesetzlicher Umsetzung der Konzernverantwortungsinitiative vorstellt (Link zum Artikel).

Recht hat er. Das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit schwächt die Wirkung des Initiativrechts. Nach der Annahme einer Volksinitiative oder eines Gegenentwurfs ist das Parlament weitgehend frei, wie es die neue Verfassungsnorm auf Gesesstufe umsetzt. Es kann sie auch fast gar nicht umsetzen, oder lange damit zuwarten.

Beispiele:

Mutterschaftsversicherung:

“Im Fahrwasser der Volksinitiative «Für die Familie» der Katholisch-Konservativen und unter dem Eindruck des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels fand 1945 der Gegenentwurf zur besagten Initiative dank der Unterstützung der SP und der bürgerlichen Parteien sowie der Frauenbewegung die Zustimmung von Volk und Ständen. Der neu in die Verfassung aufgenommene Artikel 34quinquies beauftragte den Bund, auf dem Gebiet der Mutterschaftsversicherung und der Familienzulagen gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Umsetzung beider Aufträge liess jedoch noch Jahrzehnte auf sich warten.”

Alpeninitiative:

“Die Alpeninitiative war radikal: Sie verlangte, dass der gesamte alpenquerende Güterverkehr von Grenze zu Grenze auf der Schiene transportiert werden muss. Dennoch sagte das Schweizer Stimmvolk 1994 mit 52 Prozent Ja zu dieser Vorlage. (…)

Bundesrat und Parlament wurden auf dem falschen Fuss erwischt. Es dauerte ganze fünf Jahre bis ein Gesetz zur Umsetzung der Alpeninitiative ausgearbeitet war. Darin schrieb das Parlament eine Höchstgrenze von 650’000 Lastwagenfahrten fest. Diese Zahl sollte binnen 10 Jahre erreicht werden. Aber auch 2009 bevorzugten noch immer fast doppelt so viele Lastwagen die Strasse, um die Alpen zu überqueren.

Und auch heute – 25 Jahre nach Annahme der Alpeninitiative – wird die Maximalzahl der Lastwagen immer noch deutlich übertroffen. 950’000 Lastwagen fuhren 2017 über Strasse durch und über die Alpen. Trotzdem ist der Verein Alpeninitiative zufrieden. (…)”

Masseneinwanderungsinitiative:

Das Parlament hat die Masseneinwanderungsinitiative – jedenfalls aus der Sicht der Initianten und Initiantinnen – nicht wirklich umgesetzt. Es hat sich auf Massnahmen für den Inländervorrang beschränkt. Eine Mehrheit des Volkes ist damit offenbar einverstanden: Sie hat am 27. September 2020 eine Durchsetzungsinitiative der SVP namens “Begrenzungsinitiative”  deutlich verworfen.

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Dies sind krasse Beispiele. In anderen Fällen darf festgestellt werden, dass sich das Parlament bemüht hat, eine angenommene Volksinitiative nach Wortlaut und Sinn umzusetzen. Es würden kaum so viele Initiativen ergriffen, wenn das Initiativrecht generell als wenig oder gar nicht wirksam betrachtet würden.

Wenn nun ein Initiativkomitee noch vor der Abstimmung einen Vorschlag für die gesetzliche Umsetzung der Initiative präsentiert, der gewissen Bedenken, die gegen die Initiative erhoben werden, Rechnung zu tragen versucht und damit auch daran anknüpft, dass es die Initiative zugunsten eines griffigen Gegenvorschlags zurückgezogen hätte, nimmt es damit wohl vorweg, wozu sich das Parlament ohnehin das Recht nähme, nämlich eine  massvolle gesetzliche Umsetzung.

Nein, eine angenommene Initiative gehört nicht den Initiantinnen und Initianten. Aber es ist eine gute Voraussetzung für die Gesetzesberatung nach einer allfälligen Annahme, wenn sie hierfür die Kompromissbereitschaft bestätigen, dies sie bereits hatten, als es um den Gegenvorschlag ging.

“Immerhin kann man hier im Unterschied zu manch anderen Urnengängen den Initianten nun den Vorwurf nicht machen, dass sie vor der Abstimmung keine Angaben über eine mögliche Umsetzung gemacht hätten”, anerkennt Hansueli Schöchli im eingangs zitierten Artikel.

Ulrich Gut.

 

 

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