Die Klimaseniorinnen klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gegen das Bundesgerichtsurteil, durch das ihre Beschwerde gegen die schweizerische Klimapolitik abgewiesen wurde. Die Begründung des Weiterzugs nach Strassburg finden Sie im offenen Brief, den die Klimaseniorinnen an den Bundesrat und an das UVEK schrieben (Link).

Auszug:

“Das andauernde Manko beim Klimaschutz führt u.a. zu heftigen Hitzewellen, die uns Seniorinnen krank machen und im schlimmsten Fall töten. Wir sind besonders verletzlich. Es ist Ihre Pflicht, unsere Leben zu schützen. So ist es in unserer Verfassung und in der europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Dennoch wurden Sie nicht genügend tätig. Das ist der Kern unserer Klimaklage. (…)

In den Niederlanden haben Gerichte ein menschenrechtlich begründetes Minimum für den staatlichen Klimaschutz bestätigt. Das UVEK und die Schweizer Gerichte waren nicht
einmal bereit, sich mit unserem Begehren inhaltlich zu befassen.

Wir hoffen nun, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die Klimapolitik der Schweiz überprüfen wird. Und wir fordern Sie auf, beim Klimaschutz endlich
so viel zu tun, wie es braucht, um uns heute schon Betroffene sowie auch die zukünftig Lebenden genügend schützen zu können.”

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Tatsächlich verbietet Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, “Recht auf Leben”, den Staaten nicht nur Tötungen, sondern verpflichtet sie auch auf Massnahmen zum Schutz des Lebens. Bei der Beurteilung des Klage der Klimaseniorinnen wird Strassburg also entscheiden müssen, wie weit diese Pflicht geht, und ob das Leben der Klägerinnen durch die Klimaentwicklung so konkret bedroht ist, dass die Schweiz durch ihre Klimapolitik gegen diese Pflicht verstösst.

Kann und will Strassburg der Schweiz kraft Art. 2 EMRK konkrete Pflichten zur Stärkung ihrer Klimapolitik auferlegen?

Hierzu Auszüge aus der soeben erschienenen dritten Auflage des “Handbuchs der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)” von Prof. Mark E. Villiger, vormals Richter am EGMR (N.  282 ff.):

“Art. 2 Abs. 1 hält den Staat dazu an, angemessene Massnahmen zu ergreifen, um das Leben von Personen zu schützen, die sich in seinem Zuständigkeitsbereich befinden. Aufgrund dieser positiven Verpflichtung sollen die notwendigen vorbeugenden Massnahmen getroffen sowie ein entsprechender gesetzlicher Rahmen geschaffen werden. (N. 272). (…)

Die positive Verpflichtung ist stets so auszulegen, dass die Behörden nicht übermässig belastet werden. (…) Für eine positive Verpflichtung muss klargestellt werden, dass die Behörden zu jenem Zeitpunkt wussten oder hätten wissen müssen, dass ein konkretes und unmittelbares Risiko für das Leben einer bestimmten Person bestand sowie dass sie es unterliessen, im Rahmen ihrer Befugnisse Massnahmen zu treffen, die nach vernünftiger Einschätzung das Risiko hätten vermeiden oder einschränken können.

Grundsätzlich fällt es in den Ermessensbereich der Behörden, welche Mittel sie wählen, um die positiven Verpflichtungen gemäss Art. 2 zu sichern. (…)”

Bei N. 289 geht der Autor auf den “Schutz von Personen vor Industrie- und Umweltgefahren”: “(…) Der Gerichtshof stellte u.a.in folgenden Fällen eine Verletzung der positiven Verpflichtungen gemäss Art. 2 fest: beim Tod infolge einer Asbestverseuchung; bei Todesfällen infolge der zufälligen Explosion einer Abfalldeponie in der Nähe einer Barackensiedlung; bei Todesfällen aufgrund eines absehbaren Erdrutsches in der Folge behördlichen Versagens; bei einer ernsthaften Gefährdung des Lebens aufgrund einer Sturzflut, nachdem ein Staudamm geleert wurde.”

Es fällt auf, dass in diesen Fällen Todesfälle bereits eingetreten waren. Die Klage der Klimaseniorinnen zielt hingegen darauf ab, ein hohes Todesrisiko für die Klägerinnen zu vermindern oder zu beseitigen.

 

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